Nacht-Mähre
Bink.
»Er saß hier auf dem Boden und hatte diese Flasche in der Hand«, sagte Chem und nahm ein kleines rotes Fläschchen auf. »Er wollte sie wohl gerade zu den anderen stellen, als…«
»Danke«, sagte Bink und nahm die Flasche entgegen. »Du kannst zum Schloß Roogna zurücktraben… nein, einen Augenblick.«
Er entfernte den Korken.
Roter Dampf wirbelte empor. »Reitersmann!« flüsterte die Stimme des Guten Magiers. Dann löste sich der Dampf auch schon auf und ließ Stille zurück.
»Er hat ja seine eigene Stimme abgefüllt!« rief Chem erstaunt.
»Jetzt wissen wir wenigstens, wer ihn verzaubert hat«, meinte Bink.
»Der Reitersmann. Humfrey hat versprochen, es uns zu sagen, wer es war, und das hat er getan – kurz bevor er selbst verzaubert wurde.«
»Vorsicht vor dem Reitersmann!« sendete Imbri in einem nervösen Träumchen. »Das war seine erste Warnung!«
»Das weist darauf hin, daß der Reitersmann in der Nähe ist«, meinte Bink. »Und genau das will ich auch. Er wird mich schon aufsuchen, sobald er erfährt, daß ich allein bin.« Er winkte Chem fort. »Humfrey hat sein Versprechen eingelöst, er hat uns die Schlüsselinformation hinterlassen. Geh nun, und melde es den anderen. Ich glaube, wir werden die Kette bald durchbrechen. Wenigstens wissen wir jetzt, was die beiden Prophezeiungen zu bedeuten haben. Wir wissen, wen wir aufhalten müssen und warum.«
»Das gefällt mir gar nicht«, meinte Chem, trabte aber gehorsam davon.
»Ich kann mich noch daran erinnern, wie sie als Fohlen war«, bemerkte Bink. »Ein aufgewecktes kleines Ding, das ständig geistige Landkarten von ihrer Umgebung machte. Inzwischen ist aus ihr wirklich eine prächtige Stute geworden!« Er drehte sich zu Imbri um. »Ich habe zwar gesagt, daß ich allein sein würde, aber dabei habe ich nicht an dich gedacht. Ich hoffe, du hast nichts dagegen zu bleiben, auch wenn ich weiß, daß du dich vor dem Reitersmann fürchtest.«
»Ich fürchte mich gar nicht vor dem Reitersmann!« protestierte Imbri. »Das Tagpferd fürchtet ihn. Wenn dieser schreckliche Mann sich mir noch einmal nähern sollte, dann setze ich ihm einen Hinterhuf ins Gesicht, daß seine Schädelplatte von innen meinen Stempel aufgedrückt bekommt!«
»Schön«, meinte der König mit grimmigem Lächeln. »Aber es ist wohl besser, wenn du ihn mir überläßt, denn er ist ja ganz offensichtlich kein Mundanier, und es könnte sein, daß du seiner Magie unterliegst. Wie sieht er eigentlich aus?«
Imbri projizierte ein Traumbild von dem Reitersmann. Sie erzitterte in plötzlichem Zorn. Natürlich war der Mann kein Mundanier! Er hatte sie gezielt in die Irre geführt, damit sie nicht erfuhr, welche Gefahr für Xanth er tatsächlich darstellte. Und sie hatte sich auch noch reinlegen lassen! Das war die Art von Schande, die Humfrey meinte – das Offensichtlichste übersehen zu haben.
»Sehr gut, Imbri. Du hast wirklich ein hübsches Talent. Wenn du keine Nachtmähre wärst, wäre es sogar ein Doppeltalent – Traumprojektion und die Fähigkeit, dich bei Nacht zu entmaterialisieren. Aber ich schätze, beide gehören zu deinem Wesen und gelten deshalb gar nicht als Talente.« Er schüttelte den Kopf. »Die Magie ist wirklich etwas sehr Seltsames. Ich bin mir über ihre Verästelungen nie ganz im klaren. Immer, wenn ich gerade glaube, sie verstanden zu haben, erscheint irgendein neuer Aspekt auf der Bildfläche, und ich muß zugeben, daß ich in Wirklichkeit überhaupt nichts begriffen habe.«
Imbri stellte fest, daß sie diesen Mann sehr mochte, ähnlich wie es bei Chamäleon der Fall war. Er war ein netter Mensch, kein Snob, intelligent, mit Sinn fürs Praktische und von einer gewissen, bescheidenen Ehrlichkeit. »Mir erscheint die Magie als etwas ganz Natürliches«, meinte sie. »Was ist denn daran so schwer zu verstehen?«
»Zum Beispiel die Verteilung und die Definition magischer Talente«, erwiderte er. »Jahrhundertelang haben wir Menschen geglaubt, daß alle Wesen entweder magische Talente besitzen oder aber selbst magisch sind. Menschen besitzen also Magie, während Drachen, diesem Modell zufolge, Magie sind. Doch dann mußten wir feststellen, daß manche Zentauren ebenfalls magische Fähigkeiten besaßen. Da hatten wir es nun mit einer magischen Rasse zu tun, die auch noch Magie ausüben konnte, was unsere alte Definition in Frage stellte. Jetzt stellt ihr Nachtmähren uns vor ein weiteres Problem. Wenn wir davon ausgehen, daß ihr ganz gewöhnliche,
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