Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
dann wurde Gabriele schwanger … Das war zu viel. Ich wollte nur noch weg. Ich bin nach Berlin geflohen.«
»Zum Zigarettenholen gegangen und nicht wiedergekommen?«, ätzte Liebetrau.
»Ich habe gute Kopien der Prüfungszeugnisse eines Kommilitonen gemacht. Er hat es gar nicht gemerkt. Dann habe ich meinen Namen eingesetzt. Keiner prüft die Urkundennummer. Ich habe einfach weitergemacht, als hätte ich die Prüfung bestanden. Seminare, Vorlesungen, Scheine. Wie alle anderen.«
»Ganz schön abgebrüht.« Liebchens Abneigung war deutlich spürbar.
»Zum Examen konnte ich mich nicht anmelden. Da wäre ich aufgeflogen. Ich habe noch einmal gefälscht und bin damit ins Ausland.« Seine Schultern zuckten verräterisch. »Ich hatte mich verstrickt in einer Welt der Selbsttäuschung. Darin bin ich Profi. Es gibt niemanden, der das besser kann.«
»Warum haben Sie nicht irgendwann die Notbremse gezogen?«, fragte Koster. Neumann hob den Kopf und sah ihn gequält an. Koster bekam beinahe Mitleid mit ihm. Aber hatte er Mitleid mit seiner schwangeren Freundin gehabt? Mit all den Menschen, die er betrogen hatte? Nein!
»Um die Notbremse zu ziehen, braucht man Mut. Ich bin ein Feigling. Ja, ich sitze hier und sage es Ihnen. Ich bin ein Feigling. Schon immer gewesen. Ich hatte nicht den Mut und die Kraft, mich aus meiner Scheinwelt zu lösen. Und warum auch? Es klappte doch alles. Es war gar nicht so schwierig. Man muss nur regelmäßig alle Brücken hinter sich abbrechen. Dann fragt keiner. In all den Jahren nicht.« Neumann war vollends eingebrochen. Er ließ den Kopf sinken.
Liebetrau blätterte in der Akte. »Dresden, Berlin, Sydney, Melbourne, Zürich. Hab ich was vergessen?«
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.« Seine Stimme klang sarkastisch. »In Zürich habe ich erstmals Kontakt zur Pharmaindustrie bekommen. Es war eine neue Welt für mich. Endlich keine Kranken mehr. Kein Siechtum, sondern Forschung. Dort wollte ich hin. Endlich hatte ich meinen Platz gefunden. Das Angebot von medi-pharma war die Lösung für all meine Probleme. Leider hatte nur die hiesige Universitätsklinik noch keinen Studienleiter. So ging ich das Risiko ein. Ohne dieses Angebot wäre ich nie nach Deutschland zurückgekommen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Koster.
»Im Ausland werden die Approbationsdokumente nicht so streng geprüft. Ich hatte Angst, dass es in Hamburg auffliegt. Deshalb will ich die Studie so schnell wie möglich abschließen. Die Ergebnisse sind wirklich fantastisch. Und ja, ich habe einige Daten dupliziert, um schneller die Gesamtanzahl an Patienten zusammenzubekommen. Mehr aber nicht!«
»Trotzdem bleibt es Manipulation. Sind Sie nicht aufgeflogen?«, fragte Liebetrau.
»Nein. Wer sollte das merken? Das ist ja der beschissene Witz. Und dann steht plötzlich Gabriele vor mir. Wie ein Geist. Jetzt weiß ich, was es heißt, wenn man sagt, dass einen ›der Schlag trifft‹.« Wieder lachte er verbittert auf und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Es schien fast so, als durchlebe er die Situation noch einmal.
Koster fing einen besorgten Blick von Staatsanwalt Menzel auf. Schüttelte aber den Kopf. So einfach käme der Arzt nicht davon.
»Es war ein grauenhafter Moment. Das viele Blut. Wie sie da lag.«
»Sie hatten Angst, dass Gabriele Henke Sie verrät. Dann wäre es aus mit Ihrem Traum vom großen Pharma-Geld.«
»Geld?« Neumann wirkte vollkommen verblüfft. Als er sich wieder gefangen hatte, sagte er: »Das ist doch Irrsinn.«
»Wollen Sie einen Schluck Wasser?«, fragte Menzel versöhnlich.
»Jetzt nicht«, fuhr Koster dazwischen. »Sie hatten sich mit ihr am Lastenfahrstuhl verabredet. Sie hatten eine Stinkwut. Diese Frau hätte alles auffliegen lassen können! Und sie hat Sie erpresst. Was wollte sie? Wie viel Geld?«
»Sie verstehen gar nichts.«
»Sie haben sie zur Rede gestellt.« Koster erhöhte das Tempo. »Ihr klargemacht, dass Sie ihr das Geld nicht geben wollen. Sie hat Ihnen gedroht, stimmt’s? Gedroht, dass sie alles sagen würde. Das war bitter. Da sind Sie ausgerastet und haben die Flasche genommen …«
»Nein, das ist totaler Unsinn.« Der Oberarzt schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht.
Liebetrau griff nach seiner Akte und holte Fotos heraus. »Sie hat Sie nicht ernst genommen.« Er schleuderte die Tatortfotos verächtlich in Neumanns Richtung. »Sie hat Sie ausgelacht, stimmt’s? Haben Sie sie deshalb angegriffen?«
»Was?« Zitternd nahm Neumann ein Foto.
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