Nacht ohne Angst: Kriminalroman (German Edition)
vor ihm lag. »Hier steht, dass Sie mit Gabriele Henke eine gemeinsame Tochter haben.«
Mit einem Mal wurde Neumann aschfahl. Sein Augenlid zuckte inzwischen ununterbrochen. »Dann steht da was Falsches drin.« Er hielt inne. »Was hat das mit der Studie zu tun?«
»Unsere Unterlagen sind jedenfalls nicht manipuliert«, sagte Liebchen und stand auf ein Zeichen von Koster hin auf. »Dann will ich unseren Besuch mal hereinbitten.«
Neumann blickte ihm nervös hinterher. Er schwitzte stark und versuchte, seine Hände unauffällig an den Hosenbeinen abzuwischen. Koster bemerkte, dass sie zitterten.
Als die Tür zum Vernehmungsraum wieder aufging, trat eine übergewichtige Frau mit auffallend langen Haaren vor Liebetrau in den Raum. Sie blieb abrupt in der Tür stehen.
»Ja, natürlich ist er das. Du hast dich gar nicht verändert, Magnus. Schade, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen. Ich will hoffen, dass du nichts mit Gabrieles Tod zu tun hast.«
Neumann hatte es die Sprache verschlagen. Er sank in sich zusammen, während Liebchen die Frau wieder hinausbugsierte.
»Ergänzen Sie das bitte für das Protokoll.« Menzel sprach das erste Mal. Seine tiefe Stimme klang angenehm ruhig.
»Ergänzung für das Protokoll …«, sagte Koster in das Mikrofon. »Kommissar Liebetrau hat Frau Doktor Schefika, wohnhaft in Berlin-Marzahn, zu einer Gegenüberstellung hereingeführt. Sie hat den Beschuldigten sofort und ohne zu zögern als ihren alten Studienkollegen aus Dresden identifiziert.« Koster machte eine Pause. »Also, jetzt wird es wirklich schwierig zu behaupten, Sie hätten Gabriele Henke nicht schon seit vielen Jahren gekannt.«
»Ich habe nichts mit dem Mord an Gabriele zu tun. Glauben Sie mir.« Neumann zögerte einen kurzen Moment. Er schien abzuwägen, knickte dann aber ein. »Lassen Sie mich erklären.« Stockend begann er zu erzählen, dass er aus einer guten Familie stamme, die seit Generationen Ärzte hervorbrachte. Auch sein Vater war ein anerkannter Chirurg, der allerdings wegen einer Parkinsonerkrankung nicht mehr arbeiten konnte. Schon seit Jahren vegetierte der Vater zu Hause vor sich hin. Keiner konnte ihm helfen. Er wollte sich auch nicht helfen lassen. Neumann wuchs in dem Wissen auf, die Stelle des Vaters einnehmen zu müssen. Es stand außer Frage, dass er als der einzige Sohn, als der »Mann im Haus«, die Familientradition aufrechterhalten und auch Arzt werden musste. Er hingegen sei an der Verantwortung fast zerbrochen. Noch heute träume er nachts vom leidenden Blick seiner Mutter. So habe er Medizin studiert, um Karriere zu machen und viel Geld zu verdienen. Ebenfalls als Chirurg. Plastische Chirurgie. Damit ließe sich gutes Geld verdienen.
»Psychiatrie ist aber nicht gerade Schönheitschirurgie«, bemerkte Liebetrau ironisch.
»Ich wollte auch gar nicht in die Psychiatrie.« Neumann lachte bitter. »Aber wen hat es denn interessiert, was ich wollte? Ich hatte nur eine Verpflichtung zu erfüllen. Etwas anderes gab es nicht.« Er schluckte und fügte leise hinzu. »Verstehen Sie das nicht?«
Liebchen ermunterte ihn: »Doch, sprechen Sie weiter.«
»Anfangs gefiel mir das Studium. Ich redete mir ein, dass ich wirklich Arzt werden will.« Wieder lachte Neumann.
Koster fand das Lachen langsam auffällig. Der Mann würde hoffentlich nicht durchdrehen. »Wollten Sie kein Arzt mehr werden?«
»Nein. Ich kam mit den Kranken nicht zurecht. Mit dem vielen Blut, den Schmerzen, dem Leid. Ist das nicht komisch? Wo ich doch von zu Hause so viel Erfahrung mit Leiden hatte. Vielleicht gerade deshalb. Sei es drum, ich glaubte, ich könne mich dran gewöhnen. Dann habe ich mich in Gabriele verliebt. Alles lief gut. Bis das Lernen für das Physikum anfing. Ich … ich … hab es einfach nicht gepackt. Der Druck von zu Hause, die ganzen Formeln, die Stoffmenge. Vielleicht wollte ich auch nicht … ich weiß es nicht. Ich bin durch die Prüfungen gefallen. Was sagen Sie nun?« Wieder lachte Neumann hysterisch auf.
»Das wissen wir bereits.« Das müsste ihm eigentlich den Boden unter den Füßen wegziehen, dachte Koster.
Tatsächlich starrte Neumann ihn entgeistert an. Flüsterte etwas, was Koster nicht verstand. »Wie bitte?«
»Sie wussten es? … Wussten Sie auch, dass ich einfach weitergemacht habe? Ich musste. Ich konnte ja niemandem sagen, dass ich ein Versager bin! Es hätte meinen Vater umgebracht. Und Mutter gleich dazu. Das war der Anfang vom Ende.« Neumann schluckte trocken. »Und
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