Nacht ohne Erbarmen
sah.« Er grinste schief. »Ich bin nicht mehr der Mann, der ich früher einmal war. In dieser Hinsicht hat sie also nichts zu befürchten.«
»Ja, das habe ich gehört.«
Er lachte schallend. »Eine Sauerei, dieses Leben, nicht wahr? Nein, mir hat's einfach gefallen, wie sie ihr Kinn vor gereckt hat und aufrecht dagestanden hat, als sie glaubte, ich wollte sie erschießen. Das hat mich umgeschmissen. Dann habe ich mir gesagt, es könnte 'ne Menge Spaß machen, Hoffer eins auszuwischen, weil ich ja das Geld schon hatte. Er ist eine miese Ratte, und außerdem mag ich die Mafia nicht.«
Er spuckte wieder aus. Ich stolperte unwillkürlich und war so aus dem Tritt gebracht, daß ich fast das Gleichgewicht verlor. Ich packte ihn beim Arm.
»Hoffer gehört zur Mafia?«
»Hast du das nicht gewußt? Er ist einer von den ameri
kanischen Syndikatsburschen, die die Yankees in den letzten paar Jahren deportiert haben.«
Und mein Großvater hatte mir nicht ein einziges Wort gesagt!
»Weiß das Mädchen Bescheid?«
»Eigentlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Nun, sie hält ihn natürlich für ein Schwein, aber sie ist erst zum zweitenmal hier in Sizilien. Für sie bedeutet die Mafia nicht mehr als ein paar Zeilen in einem Touristenführer – eine romantische Ange legenheit.«
Das klang recht vernünftig. Woher sollte sie es auch anders wissen, wenn sie den größten Teil des Jahres in irgendeinem englischen Internat verbrachte und die übrigen Monate bei gesellschaftlichen Verpflichtungen in Frankreich, in der Schweiz und so weiter? In dieser Hinsicht hatten wir einiges gemeinsam.
»Hoffer arbeitet also für die Gesellschaft hier?«
Serafino sah mich überrascht an. »Du kennst doch die Regeln: Wer einmal drin ist, kommt nicht mehr raus. Er ist der letzte von einem halben Dutzend ähnlicher Typen.«
»Was ist aus den anderen geworden?«
»Zwei haben auf den Starter ihres Autos gedrückt und sind geradewegs zur Hölle gefahren. Die übrigen wurden auf diese oder jene Art ins Jenseits befördert. Sie hatten schon das Messer gegen Barbaccia gewetzt, aber das war ein großer Fehler. Der alte Wolf steckt sie doch alle in die Tasche.«
»Dieser Anschlag auf sein Leben – die Bombe, die meine Mutter umgebracht hat –, wer war dafür verantwortlich?« fragte ich.
»Wer weiß?« Er zuckte die Achseln. »Irgendeiner von ihnen. Macht es etwas aus? Barbaccia kriegt sie ja doch alle.«
Dieser Gedanke war so furchtbar, daß mir eine Gänsehaut über den Rücken lief. Vito Barbaccia – Herr über Leben und Tod.
Ich schüttelte mich. Dann lief ich Serafino nach, der fröhlich pfeifend vorausging.
Die Schäferhütte sah aus, als hätte sie schon seit dem Beginn aller Zeiten dagestanden. Sie war aus Steinen und Felsbrocken verschiedener Größe errichtet, deren Lücken man mit Lehm verschmiert hatte. Das Dach bestand aus Eichenknüppeln, die mit Rasen abgedeckt waren.
An dieser Stelle verwandelte sich der Bach in einen sprudelnden Wasserfall, der über mehrere tiefe Becken hinabfiel und dann über eine Felskante in einer Tiefe von ungefähr zwölf Metern verschwand.
Die bemerkenswert schlichte Hütte lehnte auf einer Lichtung neben dem Bach an einem steilen Hang. Zwei Esel und drei Ziegen grasten in der Nähe, und ein halbes Dutzend Hühner liefen eifrig pickend im Unterholz umher.
Ein Bursche von etwa achtzehn oder neunzehn Jahren hockte an einem kleinen Feuer und legte gerade dünne Zweige in die Flammen, die unter einem Topf prasselten. Das mußte Joe Ricco sein, den Gerda erwähnt hatte. Abgesehen von seiner Jugend und dem roten Haar wies er eine deprimierende Ähnlichkeit mit den anderen auf: dieselbe Stoffmütze, derselbe geflickte Anzug, Ledergamaschen, dasselbe finstere, abge brühte Gesicht.
Er stand auf, sah mich neugierig an, und die Brüder Vivaldi traten dann zu ihm. Mit einem schmutzigen und abgeschla genen Emailletopf schöpften sie sich etwas aus dem Kessel, das ganz entfernt nach Kaffee roch.
Serafino und Joanna Truscott saßen nebeneinander auf einem Baumstamm am Bach. Er förderte von irgendwoher einen neuen Zigarrenstummel zutage und zündete ihn an. Dann blickte er in den grauen Morgen hinaus.
»Trotzdem begreife ich das nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich gäbe was drum, wenn ich wüßte, was Hoffer vorhat.«
»Vielleicht ist die ganze Sache viel einfacher, als wir glauben«, sagte Joanna.
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