Nacht ohne Schatten
kaum.
»Schwesterherz!« Ihr Bruder Edgar, schon lange kein Rotzlümmel mehr, der sich mit seinem Zwilling Artur gegen Judith verbündet, sondern ein junger Mann mit den Gesichtszügen ihres Stiefvaters und den Augen ihrer Mutter, winkt aus einer Nische. Er umarmt Judith und küsst sie enthusiastisch auf die Wangen. »Gut schaust du aus!«
»Schön, dich zu sehen, Kleiner«, erwidert Judith und merkt, dass sie das ehrlich meint. Wenn es in ihrer Familie jemanden gab, mit dem sie hin und wieder eine gewisse Verbundenheit fühlte, dann war es Edgar, der lustige Zwilling, der zwar nicht selbst aufbegehrte, doch Judiths wilde, unerklärliche Sehnsucht nach einem anderen Leben als dem der Eltern zumindest nicht als spinnerte Jungmädchenträume verlachte.
»Ich wusste gar nicht, dass du Feinschmeckerin bist«, sagt er, nachdem sie die Speisekarte studiert und bestellt haben.
»Die Empfehlung eines Kollegen. Mir war nicht nach Pizza.« Und auch nicht nach Currywurst, ergänzt Judith stumm.
»Sie vermissen dich. Ich soll dich grüÃen.«
»Bist du deshalb hier?«
»Ich bin geschäftlich hier, wegen der Messe. Und ich wollte mit dir essen gehen.«
»Ja, natürlich. Schon gut.«
»Mensch, Ju, das war jetzt das zweite Weihnachtsfest mit einer schnöden Karte von dir. Nicht mal angerufen hast du. Ich sage ja nicht, dass zu Hause immer alles toll war oder ist, aber wir sind immer noch deine Familie.«
»Es ging nicht. Ich konnte nicht feiern.« Judith dreht sich eine Zigarette. »Ich brauchte Abstand. Zeit für mich.« Sie trinkt einen Schluck alkoholfreies Bier, zündet die Zigarette an. »Sag jetzt bloà nicht, dass ich endlich mit dem Rauchen aufhören muss, das weià ich selber.«
»Es ist dein Job, der dich fertigmacht, das ganze Elend.«
Es sind all die Fragen, die ich einfach nicht beantworten kann, denkt Judith. Früher nicht, heute noch weniger. Fragen zum Leben, zum Tod und vor allen Dingen nach dem Sinn. Sie drückt ihre Zigarette aus, schiebt den Aschenbecher beiseite, weil der Kellner ihnen das Essen serviert.
»Lass uns nicht streiten, Ed, erzähl mir von dir.«
»Ich werde heiraten!« Er schneidet mit Appetit in seinen Lammrücken, berichtet von den geplanten Flitterwochen in einem italienischen Luxusdomizil und seiner Auserwählten, die Managerin ist wie er. Ich hätte auch so ein Leben haben können, denkt Judith. So einfach, so geradlinig, und der Mann, dessen Nachnamen ich trage, und seine Frau, die meine Mutter ist, hätten mich dabei unterstützt. Doch Judith wollte nicht BWL studieren, interessierte sich nicht für Anlage- und Managementstrategien, konnte den Traum vom Kapitalismus als Garant für Wohlstand und Freiheit und Weltfrieden nicht teilen.
Das Essen ist köstlich, aromatisch, das Beste, was Judith seit Tagen gegessen hat. Nach diesem Fall werde ich etwas ändern, schwört sie sich wieder einmal. Besser auf meine Ernährung achten, aufhören zu rauchen, Sport machen, irgendwas.
»Und du?« Edgar stippt den Rest Sauce auf seinem Teller mit WeiÃbrot auf.
Judith lehnt sich zurück. »Ein Mann spart jahrelang jeden Euro auf einem Tagesgeldkonto, ein einfacher Mann um die vierzig. Nicht besonders reich, nicht attraktiv, ledig. Und dann, eines Tages, spaziert er in seine Bank und hebt fast all seine Ersparnisse ab. 23 437 Euro. In bar. Warum?«
»Gehört das zu deinem aktuellen Fall?« Ihr Bruder mustert sie interessiert.
Judith nickt.
»Wenn er das Geld legal anlegen wollte, hätte er es überwiesen«, sagt Edgar. »Vielleicht hat er es nach Liechtenstein geschmuggelt. Oder in die Schweiz.«
»Es gibt keinerlei Hinweis darauf, auch keine Quittung.«
Edgar winkt nach dem Kellner, bedeutet ihm, neue Getränke und die Dessertkarte zu bringen. »Wer transferiert über 20 000 Euro irgendwohin, ohne eine Quittung dafür zu verlangen?«
»Wer bar bezahlt, hinterlässt weniger Spuren.« Judith bläst den Rauch einer frisch gedrehten Zigarette Richtung Decke. »Das Problem ist nur, dass unser Mann absolut nichts Teures besitzt. Was also hat er mit dem Geld gemacht?«
»Vielleicht hatte er Schulden. Spielschulden zum Beispiel. Oder er wollte jemanden bestechen.«
»Hey, du bist richtig gut!«
»Oder er wollte jemandem helfen, das Geld verleihen.«
»Er scheint keine engen
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