Nacht ohne Schatten
Judith die Räume der Frau-en-für-Frauen-Beratungsstelle betritt.
»Ich möchte zu Cornelia Offinger.« Judith reicht ihr eine Visitenkarte. »Ich brauche ihre Hilfe bei einer Ermittlung.«
Die junge Frau deutet den Flur hinunter. »Sie berät gerade eine Klientin. Können Sie eine Viertelstunde warten?«
Das Wartezimmer ist leer. Die Wände sind hellgelb getüncht, Poster von Frauen aus aller Welt zieren sie, auf den Fensterbänken stehen Topfpflanzen, auf einem alten Couchtisch in der Mitte des Raums stapeln sich Informationsbroschüren. »Wir sind gegen Gewalt-
tätig«.
»Gegen Gewalt an Frauen und Kindern«. »Frauen gegen Gewalt«. »Mehr Schutz bei häuslicher Gewalt â Informationen zum Gewaltschutzgesetz«. » 30 Jahre Frauenhaus Köln â denn sie wissen, was sie tun«. Manche Broschüren wurden von Frauengruppen herausgegeben, im Impressum anderer zeichnen Stadt, Landes- und Bundesministerien für die Inhalte verantwortlich. Auch die Polizei Köln ist mit einem Prospekt vertreten. »Gewalt ist schwach!«, heiÃt er und erläutert in mehreren Sprachen die Gesetze, die Frauen vor den Ãbergriffen der Menschen schützen sollen, mit denen sie zusammenleben.
Judith geht eine Weile auf und ab, tritt ans Fenster, setzt sich in einen der Korbstühle, steht gleich wieder auf. Sie fühlt sich dünnhäutig, unruhig, unter Strom und zugleich merkwürdig leicht, als stünde tatsächlich ein wichtiger Durchbruch bevor, als sei sie endlich dabei, etwas Grundlegendes zu erkennen. Sie ruft Karin Munzinger an, bittet die Kriminaltechnikerin, die Kleidung des S-Bahn-Fahrers Wolfgang Berger so schnell als möglich auf dunkle Wollfasern zu untersuchen. Sie ist inzwischen beinahe überzeugt, dass der Obdachlose nicht der Täter, sondern ein Zeuge ist, aber darauf kommt es nicht an, sie muss das verifizieren.
»Mir geht es gut«, versichert sie Karin zum Abschied. »Ja, das war ätzend heute Morgen, aber ich bin okay.«
Judith setzt sich wieder in einen der Korbstühle und betrachtet die Informationsbroschüren. Sie sind das Ergebnis eines langen, harten Weges, den sie einmal gehen wollte und dann doch nicht gegangen ist, aus Gründen, die sie bis heute nicht vollständig versteht. Verräterin, hat Cornelia Offinger geschrien, als Judith aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war. Komm bloà niemals wieder! Und Judith hatte gehorcht,das Urteil der Ãlteren akzeptiert. Warum eigentlich, fragt sie sich jetzt. Warum habe ich nicht einmal versucht, mich zu verteidigen, sondern stattdessen auch noch meinen Job als Nachtwächterin im Frauenhaus aufgegeben?
DreiÃig Jahre autonomes Frauenhaus Köln. Sie blättert durch den Prospekt, muss unwillkürlich lächeln, als sie von den Anfängen liest. Ein Frauenhaus sei nun wirklich nicht nötig, die wenigen schlagenden Männer in Köln könne man in einer Schubkarre wegfahren, hatte der damalige Sozialdezernent Hans-Erich Körner gehöhnt, als die Frauen das Konzept vorstellten. Doch die Gründerinnen behielten recht: Ihr Frauenhaus war schon bald überbelegt, ein weiteres wurde eröffnet, neue Frauengruppen formierten sich, die gegen Essstörungen, sexuellen Missbrauch, Pornografie, Diskriminierung am Arbeitsplatz agitierten und schlieÃlich auch gegen Frauenhandel, die moderne Form der Sklaverei. Und allmählich begannen Politiker und Polizei die Existenz all dieser Missstände nicht länger zu leugnen, sondern stattdessen mit den einst verspotteten Frauenrechtlerinnen zu kooperieren.
Judith selbst war erst Mitte der 80 er Jahre zu den Kölner Aktivistinnen gestoÃen, als frischgebackene Jurastudentin. Neugierig und mit dem Wunsch, sich zu engagieren, war sie zu dem ersten Treffen gegangen, und bereits nach fünf Minuten hatte Cornelia Offinger sie mit einer einzigartigen Mischung aus Humor, Scharfsinn und Pragmatismus in den Bann gezogen. Sie hatten gemeinsam gekämpft und gemeinsam gelacht. Sie färbten die Haare mit Henna, organisierten Demonstrationen gegen den Paragrafen 218 und gründeten nach dem Gau im AKW Tschernobyl eine Gebärstreikgruppe, um gegen die Atomkraft zu protestieren. Sie fühlten sich stark. Sie fühlten sich im Recht. Sie waren davon überzeugt, dass sie Geschichte schrieben und â wenn auch mühsam â den Weg in eine bessere Welt bereiteten. Eine
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