Nacht ohne Schatten
das Parkdeck, in seinen GTI, über die Zoobrücke und dann doch nicht zum Karatetraining, sondern ein weiteres Mal zu der Haltestelle Gewerbepark. Nur wenige Fahrgäste warten dort auf eine S-Bahn. Das Abstellgleis, wo Berger seine letzte Pause verbrachte, ist leer. Manni läuft ans Ende der Haltestelle, passt einen Moment ab, in dem keiner der anderen Wartenden ihn beachtet, und springt ins Gleisbett. Er hält sich rechts, erreicht die Stelle, wo Wolfgang Berger starb, in einer knappen Minute.
Ein kalter Wind weht, aber den bemerkt Manni kaum, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, seine Gedanken zu ordnen, einen Zusammenhang zu finden, was auch immer. Er blickt Richtung Amor, dessen roter Lichterkettenschein irgendwo jenseits des Geländes in den Nachthimmel strahlt, und denkt an seine leere Wohnung. Er denkt an seinen Vater und die Unterwäsche seiner Mutter und an Sonja. Und vor allem denkt er an das Komamädchen, und erst da wird ihm bewusst, wie sehr er unter Strom steht und dass er die ganze Zeit die Hände zu Fäusten ballt, dabei kann er seinen Gegner noch nicht einmal sehen.
* * *
Erst um 22 Uhr gestattet sich Ekaterina wieder, an die Ermittlungen im Fall Soko S-Bahn und das Gespräch mit der Kommissarin zu denken. Sie schiebt die Unterlagen beiseite, in die sie sich in den letzten Stunden vertieft hat, um sich auf die Podiumsdiskussion zum Thema häusliche Gewalt vorzubereiten, bei der sie in zwei Tagen als Expertin auftreten muss. Auch Cornelia Offinger wird daran teilnehmen, die Leiterin von Frauen für Frauen, mit der Judith Krieger am Nachmittag gesprochen hat. Eine Ines hat sie zum Glück mit keinem Worterwähnt. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Ines und der Komapatientin? Ist sie womöglich gar nicht die wohlhabende, zerbrechliche Gattin eines Mannes, der sie misshandelt, sondern eine Prostituierte, die beschlossen hat zurückzuschlagen? Doch warum hat sie Ekaterina dann um Hilfe gebeten, und wovor hat sie so panische Angst? Unwirsch schüttelt Ekaterina den Kopf. Angst und Zerbrechlichkeit sind nicht notwendigerweise ein Freispruch, denn Töten ist nicht so sehr eine Frage der Kraft als eine des Willens und natürlich des Mittels.
Sie richtet sich auf, streckt den Rücken durch, merkt erst jetzt, wie steif sie vom langen Sitzen geworden ist. Ihr Kopf tut schon weh, so hungrig ist sie, der halbstündige FuÃweg nach Hause mit knurrendem Magen erscheint ihr unerträglich lang. Sie verbietet sich einen erneuten Griff in die Schachtel mit dem Würfelzucker, geht stattdessen über den dunklen, leeren Flur in die Teeküche des Rechtsmedizinischen Instituts. Sie darf sich nicht gehenlassen, darf nicht die schlechten Sitten aus ihrer Kindheit reaktivieren, bloà weil die alten Geister einmal mehr ihre Köpfe recken. Sie nimmt ihr vergessenes Mittagessen aus dem Kühlschrank, eine Plastikdose mit selbst gekochter Gemüsesuppe, die sie zum Aufwärmen in die Mikrowelle schiebt. Sie löffelt die Suppe im Stehen, kaut zwei Stück Zwieback dazu.
Wieder beginnt etwas in ihrem Hinterkopf zu rumoren, eine Idee, ein Detail, das sie noch immer nicht zu fassen bekommt. Du musst nach Hause, redet sie sich zu. Ein heiÃes Bad nehmen, das hast du verdient, dir eine Schale Himbeereis dazu gönnen, dich entspannen und vor allem schlafen. Sie geht über den Flur zum Fenster über dem Haupteingang. Steht Ines irgendwo dort unten und wartet auf sie? Falls es so ist, kann Ekaterina sie nicht sehen.
Ihre Stiefelabsätze klackern hart, als Ekaterina zur Toilette geht. Sie wäscht sich Hände und Gesicht mit kaltem Wasser. Die Flüssigseife riecht unangenehm chemisch und trocknet die Haut aus, das graue Papierhandtuch zerfasert zu unappetitlichenKlümpchen. Ekaterina tupft sich Wimperntuschekrümel aus den Augenwinkeln, wischt den verlaufenen violetten Lidschatten ab. Warum benutzt sie nicht endlich eines der dafür vorgesehenen Regale, um darin ihre persönlichen Hygieneartikel und ein Handtuch zu deponieren? Warum lebt sie wie auf dem Sprung, obwohl sie erst vor wenigen Wochen einen Dreijahres-Arbeitsvertrag unterzeichnet hat? Die Augen ihrer Mutter sehen ihr aus dem Spiegel entgegen, die auch ihre eigenen Augen sind, und die von GroÃmutter und UrgroÃmutter: Nomadenaugen. Schmal und schwarz und unergründlich. Lappenschlampe. Hässliche Nutte. Trägst das Gift der Untreue im Blut. Ekaterina starrt in den Spiegel,
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