Nacht ohne Schatten
zwar noch kein eindeutiger Beweis, steigert aber zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Toten mit der Komapatientin verkehrt haben.
Du darfst keine Angst haben, Katjuschka, dann bist du sicher. Ekaterina schiebt die Bahren wieder zurück, löscht das Licht, folgt der Notbeleuchtung über den Gang zu dem Rolltor, durch das die Bestatter die Leichen transportieren. Sie glaubt die Seelen der Toten hinter sich zu hören, ein Zischen und Murmeln, das sie normalerweise beruhigt, heute Nacht aber schaudern lässt.
Klack, klack, klack machen ihre Stiefel, als sie das Tor hinter sich verschlossen hat und die Betonrampe betritt. Klack, klack, klack. Nur ihre Stiefel? Sie hält einen Augenblick inne,beginnt zum zweiten Mal an diesem Tag zu zittern. Es ist die Kälte, redet sie sich zu. Es ist tatsächlich kalt geworden, fast so, als gäbe es Schnee.
Du darfst keine Angst haben, Katja. Wieder die Stimme ihrer GroÃmutter. So nah, so schmerzlich nah. Dann sieht Ekaterina den Fuchs. Ein stattliches rotgraues Tier, das vom Friedhof auf die Rampe zuschnürt und sie ansieht, als habe es eine Botschaft für sie. Ein
snowidenije
, ein Traumbild. Der Schutzgeist ihrer UrgroÃmutter. Doch als Stalins Henker mit dem Hubschrauber kamen, zerbrach seine Macht, und alles, was folgte, waren Zerstörung und Tod.
Donnerstag, 12. Januar
Sie ist ein Luftwesen, schwerelos. Spielt mit dem Wind. Befiehlt ihm das Tempo. Kennt seine Richtung, noch bevor er weht. Sie breitet die Arme aus, und der Wind trägt sie höher. Der Himmel ist Samt. Schwarz. Still. Ein Freund wie der Wind. Sie kann ihren Körper nicht fühlen, weià nicht, wo er endet und wo die Luft beginnt, weià nur, dass sie geborgen ist.
Tief unter ihr liegt die Stadt, ein entferntes Funkeln. Sie lässt sich noch etwas höher tragen. Die Stadt ist schön, von hier oben betrachtet, man sieht die Menschen nicht. Dann, ohne Vorwarnung, verlässt sie der Wind, und sie weiÃ, dass sie stirbt. Sie will sich wehren, aber sie stürzt unaufhaltsam durchs Schwarz auf die Lichtsplitter zu, Lichtsplitter, die sie zerschneiden werden.
Sie erwacht ohne Orientierung, schweiÃnass, mit fliegendem Atem. Jetzt weiÃt du, wie es ist. Irgendwann hat sie wieder die Worte gehört, einmal mehr, ohne ihre Bedeutung zu begreifen oder den Sprecher zu identifizieren. Sie will sich aufsetzen, aber etwas behindert sie, schlingt sich um ihren Hals. Sie greift danach, reiÃt es fort. Es war nur die Bettdecke, erkennt sie verspätet. Sie schaltet die Nachttischlampe an, atmet auf, als sie im Licht ihr Schlafzimmer erkennt. Ich habe geträumt, beruhigt sie sich. Das war nur eine weitere Angsthalluzination, die wie die Albträume in den Nächten zuvor nichts mit den Ermittlungen der Soko S-Bahn zu tun hat und nichts mit meiner ausbleibenden Beförderung, sondern allein mit der unseligen Weihnachtstombola.
Es ist erst vier Uhr, aber Judith ist sich sicher, dass sie nicht mehr einschlafen wird. Sie setzt Espresso auf und stellt sichunter die Dusche. Sie zieht ihren Bademantel und Wollsocken über, geht dann zurück in die Küche, wo sie zwei Scheiben Schwarzbrot röstet und mit Hüttenkäse und Tomaten belegt. Sie blättert durch die
Süddeutsche
des Vortags, während sie frühstückt, liest die Nachrichten und dann einen Artikel im Wirtschaftsteil. »Frauen gibtâs billiger« lautet die Ãberschrift, aber es geht nicht um Frauenhandel, sondern um eine EU-Studie, der zufolge Frauen in Deutschland im Durchschnitt für dieselbe Arbeit 22 Prozent weniger Lohn erhalten als Männer. Nur in Zypern, Estland und der Slowakei seien in Europa die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen noch ausgeprägter als in Deutschland, ist das Fazit der EU-Kommission. Und obwohl diese Benachteiligung von Frauen eine »inakzeptable Ressourcenverschwendung für die Volkswirtschaft und die Gesellschaft« sei, habe sich das Ungleichgewicht in Deutschland im Vergleich zur letzten Erhebung sogar noch vergröÃert. Man wolle hierzulande ganz offensichtlich nicht gegensteuern, schreibt der Verfasser des Artikels im Kommentarteil, denn in allen anderen Ländern gelänge das ja auch.
Ausbeutung
würde Cora Offinger das nennen. Deutschland ist ein System, das auf der Ausbeutung von Frauen basiert. Judith setzt sich mit einer weiteren Tasse Milchkaffee auf die Wohnzimmerfensterbank. Warum ist sie damals zur
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