Nacht über Algier
Bein aufgestanden ist. Wir fühlen uns wohl in der Zentrale. Wir sind immer freundlich, und damit kommen wir gut über die Runden. Wenn du Diabetiker bist, hast du ein Anrecht auf deine kostenlose Menge Insulin. Aber bitte, laß uns unser Stück Zucker.«
Wir haben die territoriale Hoheit aller Nachtlokale entlang der Küste verletzt und so bei sämtlichen Lackaffen von Groß-Algier einen Schlaganfall ausgelöst. Abends gegen elf erreichen wir das »Sultanat bleu«, ein auf einem Felsen errichtetes, für Unbefugte verbotenes Jagdrevier am Meeresufer. Ich bitte Inspektor Serdj, im Auto auf mich zu warten, und steige die hell gemaserte Marmortreppe des prächtigen Anwesens hinauf.
Der geschniegelte Eunuch, der am Eingang Wache hält, wäre um ein Haar vor Empörung geplatzt. Jede Stufe, die ich erklimme, scheint ihm einen Todesstoß zu versetzen. Als ich auf seiner Höhe bin, versucht er mir wie ein Landsknecht mit seiner Lanze den Weg zu versperren.
»Sind Sie sicher, daß Sie hier richtig sind, Monsieur?«
»Nicht hundertprozentig, Casimir, aber ich werd mich schon zurechtfinden.«
Ich zeige ihm den Gurt meiner 9-mm-Beretta und durchquere die Eingangshalle mit der Wachsamkeit eines Bären, der ein Pfadfinderlager umzingelt. Ein paar Nutten in voller Kriegsbemalung bringen sich eiligst in Sicherheit. Ich ignoriere sie und folge meiner Fährte bis zu einem lauschigen Hof, wo sich einige Pärchen um ein Schwimmbecken drängen.
Einer der Aristokratenärsche springt auf, als ich neben ihm auftauche. Er mustert mich, blickt dann in den Himmel, um zu ergründen, von welchem Planeten ich wohl gefallen sein könnte.
»Schönen Abend«, säusele ich ihm zu.
Ich rücke einen imaginären Schlips gerade und lasse meinen Blick über die Geldsäcke schweifen. Etwas abseits in einer ruhigen Ecke hocken die beiden Turteltäubchen eng aneinandergeschmiegt und kehren der ganzen Welt den Rücken. Ich bin in meinem Land schon so mancher Sirene begegnet, habe mich schon so manches Mal von einer kabylischen Schönheit verzaubern lassen, aber diese lächelnde Huri, diese Paradiesjungfrau hier auf der Terrasse des »Sultanat bleu«, scheint allein heller zu leuchten als ein heiliges Feuer. Mit ihrer dunkel schimmernden Mähne und ihren glühenden Augen ist sie so schön, daß ich nicht begreife, warum der Sitz, auf dem sie thront, noch nicht in Flammen aufgegangen ist.
Nein, ich werde sie nicht stören. Sie sind so bezaubernd, sie scheinen so glücklich. Auch wenn Lino neben seiner Gefährtin nur wie ein Schatten wirkt, erinnere ich mich nicht, ihn je so entspannt und zufrieden mit sich gesehen zu haben. Ich beobachte sie einen Moment, ertappe mich dabei, wie ich lächle, wenn sie lachen, wie ich mir die Finger reibe, wenn sie ihre Hände ineinanderlegen, gerührt und fast beschämt, mit meinen ausgetretenen Latschen in ihr Liebesnest einzudringen.
Still und leise, darauf bedacht, mich nicht bemerkbar zu machen, kehre ich um und gehe zurück zum Auto, wo Serdj auf mich wartet.
6
Seit zwei Jahrzehnten, jeden 31. Oktober, egal, ob es regnet oder stürmt, pferche ich Mina und die Gören ins Auto und nehme Kurs aufs Bled. Wenn ich Dienst habe, richte ich es so ein, daß mich jemand vertritt. Um nichts in der Welt würde ich die Gelegenheit verpassen, den Jahrestag des Ausbruchs der Revolution mit den Meinen feierlich zu begehen. Am 1. November jeden Jahres treffe ich mich mit meinen alten Waffenbrüdern in Ighider. Sie kommen aus aller Welt angereist, einige mit ihren Luxusschlitten, andere in ihren Schrottkarren, und versammeln sich im Patio des Dorfältesten. Nach endlosen Umarmungen und dem traditionellen Glas Tee ziehen wir durchs Dorf und über die Felder, um oben auf dem Hügel am Fuß des Märtyrerdenkmals einen riesengroßen Kranz abzulegen. Dort halten wir im Gedenken an die Toten eine Schweigeminute ab, worauf einige von uns nur mit Mühe wieder den Kopf heben können. Danach verliest der Imam die Fatiha, die erste Sure des Korans. Und schließlich finden sich alle wieder beim Dorfältesten ein, um gemeinsam dem Mechoui, dem Hammelspießbraten, zu huldigen.
Ich glaube, daß in der Dechra, im kabylischen Dorf, der 1. November der feierlichste Tag des Jahres ist. Selbst Da Achour, der seine kleine Bucht wegen seiner Fettleibigkeit so gut wie nie verläßt, macht es irgendwie möglich, zu uns zu stoßen. Wir graben die verflossenen Jahre wieder aus, die Heldentaten aus dem Maquis, die Napalmbomben und die in
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