Nacht über den Wassern
gegangen. Als sie in Shediac von Bord gegangen war, hatte sie ihn zum letztenmal gesehen: Er war auf dem Weg zur Toilette gewesen. War das der erste Schritt zur Flucht? Hatte Harry bereits gewußt, daß ihm das Wasser bis zum Hals stand?
Die Polizei hatte die gesamte Maschine nach ihm durchsucht, ohne ihn indes zu finden. Folglich mußte er irgendwo von Bord gegangen sein. Aber wo war er jetzt? Marschierte er eine schmale Waldstraße entlang und hoffte, als Anhalter mitgenommen zu werden? Oder hatte er sich an Bord eines Fischerboots geschlichen und sich auf dem Seeweg davongemacht? Was immer er auch getan haben mochte, Margaret quälte nur eine Frage:
Werde ich ihn je wiedersehen?
Du darfst den Mut nicht verlieren, redete sie sich immer wieder ein. Harry zu verlieren schmerzte sehr, aber sie hatte immer noch Nancy Lenehan, die ihr helfen würde.
Vater konnte sie nicht mehr aufhalten. Er war ein Versager, er war ins Exil geschickt worden, er hatte seine Macht über sie verloren. Sie befürchtete jedoch nach wie vor, daß er wie ein verwundetes, in die Enge getriebenes Tier um sich schlagen und furchtbares Unheil anrichten könnte.
Sobald die Maschine ihre Flughöhe erreicht hatte, löste Margaret den Sicherheitsgurt und ging nach achtern, um mit Mrs. Lenehan zu sprechen.
Als sie den Speisesaal durchquerte, waren die Stewards gerade dabei, den Raum für das Mittagessen herzurichten. Weiter hinten, im Abteil vier, saßen Seite an Seite Ollis Field und Frank Gordon, mit Handschellen aneinandergekettet. Margaret ging bis ganz nach hinten durch und klopfte an die Tür der Honeymoon Suite. Keine Antwort. Sie klopfte noch einmal und öffnete schließlich. Die Suite war leer.
Ihre Knie drohten unter ihr nachzugeben.
Vielleicht war Nancy ja auf der Toilette. Aber wo war dann Mr. Lovesey? Wäre er zum Flugdeck oder zur Toilette gegangen, so hätte Margaret ihn auf dem Weg durch Abteil zwei gesehen. Sie stand mit gerunzelter Stirn im Türrahmen und blickte sich suchend in der Suite um, als argwöhne sie, die beiden hielten sich irgendwo versteckt. Aber es gab kein Versteck.
Nancys Bruder Peter und sein Begleiter saßen gleich neben der Honeymoon Suite, gegenüber der Damentoilette, und Margaret fragte sie: »Wo ist Mrs. Lenehan?«
Peter antwortete: »Sie hat beschlossen, den Flug in Shediac zu beenden.«
Margaret schnappte nach Luft. »Was?« sagte sie. »Woher wissen Sie das?«
»Weil sie es mir gesagt hat.«
»Aber wieso denn?« fragte Margaret kläglich. »Warum ist sie dort geblieben?«
Er gab sich indigniert und erwiderte kühl: »Das weiß ich auch nicht. Sie hat es mir nicht gesagt, sondern mich lediglich gebeten, den Captain darüber in Kenntnis zu setzen, daß sie auf der letzten Etappe des Fluges nicht mehr dabeisein würde.«
Margaret wußte, daß alle weiteren Fragen einer Unverschämtheit gleichkamen, aber sie mußte einfach noch einmal nachhaken. »Wo ist Nancy denn hin?«
Er griff nach einer Zeitung, die neben ihm auf dem Sitz lag. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte er und begann zu lesen.
Margaret war verzweifelt. Wie kann Nancy so etwas tun? dachte sie. Sie weiß doch, wie sehr ich auf ihre Hilfe zähle. Sie hätte den Flug bestimmt nicht abgebrochen, ohne einen Ton zu sagen oder zumindest eine Nachricht zu hinterlassen.
Sie starrte Peter an. Er kam ihr ziemlich durchtrieben vor und hatte außerdem auf ihre Fragen ein bißchen zu empfindlich reagiert. Sie sah ihn an und meinte geradeheraus: »Ich glaube, daß Sie mir nicht die Wahrheit sagen.« Das war eine Beleidigung, und sie hielt den Atem an, während sie auf seine Erwiderung wartete.
Er schaute zu ihr auf und errötete. »Mir scheint, Sie haben die schlechten Manieren Ihres Vaters geerbt, junge Dame«, sagte er. »Bitte gehen Sie jetzt.«
Die Bemerkung saß. Es gab nichts Schlimmeres für sie als die Feststellung, sie ähnele ihrem Vater. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sie sich ab und ging. Sie war den Tränen nahe.
Auf dem Gang durch Abteil vier bemerkte sie Diana Lovesey, Mervyns bildschöne Frau. Alle Welt hatte an dem Drama mit der durchgebrannten Frau und dem sie verfolgenden Ehemann Anteil genommen und sich darüber amüsiert, daß Nancy und Mervyn sich die Honeymoon Suite hatten teilen müssen. Margaret fragte sich, ob Diana wohl etwas über den Verbleib ihres Mannes wußte. Solche Fragen waren zwar peinlich, aber Margaret war viel zu verzweifelt, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie setzte sich
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