Nacht über Eden
Hand, um mir zu bedeuten, ich sollte mich gedulden. Einen Augenblick später erschien Parson mit einer langen Schachtel unter dem Arm. Er stellte sie am Fenster ab und drehte sich zu Tony um.
»Hierher, Mr. Tatterton?«
»Genau.«
»Was ist das?«
»Das wirst du gleich sehen«, sagte er, nahm das inzwischen leere Tablett und stellte es auf die Kommode. Dann zog er meinen Rollstuhl ans Bett, so daß er neben mir auf dem Bettrand sitzen konnte, und wir sahen beide zu, wie Parson auspackte. Einige Sekunden später wußte ich, um was es sich handelte – eine Staffelei. Parson stellte sie unverzüglich so auf, daß ich im Sitzen malen konnte.
»O Tony, eine Staffelei! Wie wundervoll«, rief ich aus.
»Es ist die beste, die wir bekommen konnten«, verkündete Tony stolz.
»O Tony, danke, aber – «
»Keine Widerrede. Du mußt einen neuen Anfang wagen. Das sagte jeder, dem ich von dir erzählte.« Er nickte Parson zu, der hinausging und mit zwei weiteren Kisten zurückkam. Die eine war voller Malutensilien, in der anderen war Papier. Tony spannte sogleich einen Bogen auf die Staffelei.
»Da ich mich nicht besonders gut damit auskenne, habe ich einfach meinem Verkaufsleiter den Auftrag gegeben, loszugehen und alles zu kaufen, was eine vielversprechende junge Malerin braucht. Irgendwo da drin ist sogar die passende Kopfbedeckung.« Er durchstöberte den Karton, bis er sie fand
– es war eine schwarze Baskenmütze. Triumphierend schwenkte er sie und setzte sie mir dann auf den Kopf. Ich strahlte.
»Siehst Du? Jetzt habe ich dich schon wieder so weit gebracht, daß du lachst.« Er rückte die Mütze auf meinem Kopf zurecht. »Schwarz steht dir ausgezeichnet, Annie.« Er drehte mich zu einem Spiegel, so daß ich mich bewundern konnte. »Fühlst du schon so etwas wie Inspiration?«
Seltsam: Als ich mich mit dieser Baskenmütze im Spiegel sah, lebten all jene Träume wieder auf, die ich schon beinahe vergessen hatte. Mehr als alles andere erfüllte mich die Kunst mit einer inneren Freude, gab meinem Leben einen Sinn. Ich war mir nicht darüber im klaren gewesen, wie sehr ich sie vermißt hatte. Der Unfall und seine Folgen hatten mich von allen Menschen und allen Dingen, die ich liebte, getrennt –
auch von meiner Malerei. Wahrscheinlich war das ein weiterer wichtiger Grund, warum ich mich so lange als ein halber Mensch gefühlt hatte. Nun aber überkam mich eine schreckliche Angst, all diese traurigen Ereignisse könnten mir vielleicht die Fähigkeit genommen haben, die tiefen Gefühle und die Inspiration zu spüren, die ich brauchte, um etwas Schönes zu schaffen. Was, wenn ich den Pinsel zur Leinwand führte und meine Phantasie kein Bild vor mein geistiges Auge zaubern würde! Wenn ich immer nur Leinen vor mir sah?
»Ich weiß nicht, Tony.«
»Nun, du wirst es zumindest versuchen, nicht wahr?
Versprochen?«
Zögernd sah ich ihn an.
»Ja? Versprichst du es mir?«
»Ich werde es versuchen, Tony. Ich verspreche es.«
»Wunderbar.« Er klatschte in die Hände. »Dann werde ich dich jetzt in Ruhe arbeiten lassen. Ich erwarte, daß ich in ein oder zwei Tagen etwas ganz Wunderbares zu sehen bekomme.«
»Erwarte nicht zuviel, Tony. Ich war sowieso nie besonders gut und – «
»Du bist viel zu bescheiden. Drake sagt das auch immer. Er hat mir übrigens eines deiner Bilder mitgebracht.«
»Das hat er getan?« rief ich aus.
»Es hängt unten in meinem Arbeitszimmer.«
»Er hat mir nichts davon gesagt. Welches Bild ist es?«
»Das mit dem kleinen Spatz auf dem Magnolienbaum. Ich liebe es sehr. Hoffentlich macht es dir nichts aus, daß er es mir geschenkt hat.«
»Nein, das ist schon in Ordnung… aber er hätte es mir sagen sollen. Er hätte mich erst fragen müssen«, fügte ich hinzu, obwohl mir Drakes hohe Meinung von meiner Malerei schmeichelte und mich glücklich machte.
»Weißt Du, ich habe ihn darum gebeten, und er wollte mir eben einen Gefallen tun. Sei nicht zu streng mit ihm«, bat Tony.
»In Ordnung, Tony.« Er lächelte und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. »Tony«, rief ich.
»Ja?«
»Wenn Luke sich bis sieben Uhr nicht gemeldet hat, dann möchte ich ihn selbst anrufen. Ich kann einfach nicht verstehen, daß er nicht kommt und auch nicht auf unsere Briefe und Anrufe reagiert. Irgend etwas ist da nicht in Ordnung.«
»Wenn tatsächlich irgend etwas nicht in Ordnung ist, Annie, solltest du noch eine Zeitlang davor verschont bleiben. Hör zu: Ich werde ihn selbst anrufen, wenn er
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