Nacht über Eden
Jillian ist genauso. Ich meine, sie war genauso, wenn sie etwas zeichnete oder malte. Ich konnte stundenlang hinter ihr stehen, ohne daß sie die geringste Notiz von mir nahm. Das hat mich immer erstaunt – nein, fasziniert sollte ich wohl besser sagen. Und ich finde dich genauso faszinierend, wenn du arbeitest, Annie«, fügte er hinzu. Er sagte das mit einer solchen Wärme, daß ich unwillkürlich errötete.
Dann fiel ihm ein, warum er gekommen war. »Oh, ich habe mich gefragt, ob du wohl eine Schlaftablette brauchst. Bevor Mrs. Broadfield wutschnaubend das Haus verlassen hat, hat sie mir noch einige Instruktionen gegeben. Wenn sie das nicht getan hätte, hätte ich ihr kein Zeugnis ausgestellt, und sie hätte niemals wieder eine Stelle bekommen.«
»Nein, ich glaube ich werde auch heute ohne ein Medikament gut schlafen können, Tony. Vielen Dank.«
»Schön. Dann lasse ich dich jetzt noch ein wenig arbeiten und komme später noch einmal vorbei, um zu sehen, ob du beim Zubettgehen irgendwelche Hilfe brauchst.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, und er wandte sich zum Gehen.
»Oh, Tony«, rief ich. Er drehte sich wieder um. »Hast du mit Luke gesprochen?«
»Oh, das habe ich noch nicht geschafft, Annie. Ich mußte mich ja erst um die Sache mit Mrs. Broadfield kümmern. Das verstehst du ja sicherlich, nicht wahr? Ich werde gleich jetzt versuchen, ihn zu erreichen«, sagte er und ging. Ich machte mich wieder an die Arbeit.
Stunden später sank ich schließlich erschöpft in meinem Stuhl zurück. Ich mußte wirklich wie in Trance gewesen sein, denn wenn ich jetzt mein Werk betrachtete, kam es mir so vor, als hätte es jemand anders geschaffen. Das Grabmal erhob sich beinahe drohend in der Mitte des Bildes; die übrigen Grabsteine waren nur angedeutet. Eine großgewachsene, hagere Gestalt kniete vor dem großen Stein. Es war nicht Tony; es war jener dunkle, geheimnisvolle Mann, den ich gesehen hatte. Sein Gesicht war nicht zu erkennen.
Ich sah meine Palette an und überlegte, welche Farben ich für das Bild verwenden könnte. Zu der düsteren Stimmung würden wohl nur Grau- und Schwarztöne passen. Ich beschloß, erst am nächsten Morgen weiterzumalen, wenn ich in einer positiveren und fröhlicheren Stimmung sein würde. Als ich mich vom Fenster abwandte, fiel mein Blick auf das Armband von Luke.
Mrs. Broadfield hatte es mir abgenommen, als sie mich nach meinem Malheur am Tag zuvor ausgezogen hatte. Nun lag es auf dem Nachttisch neben dem Bett. Acht Uhr war längst vorbei, und Tony hatte mittlerweile bestimmt mit Luke gesprochen. Warum war er nicht heraufgekommen, um mir darüber Bericht zu erstatten? Bedeutet das, daß Luke immer noch unerreichbar war, oder daß er Ausflüchte gefunden hatte, warum er mich nicht besuchen konnte? Ich fühlte, wie Zorn und Enttäuschung durch meinen Körper flossen und dabei das Blut erwärmten, das durch meine rebellischen Beine lief.
Plötzlich war da ein stechender Schmerz; irgend etwas schoß wie ein Stromstoß durch den unteren Teil meiner Wirbelsäule.
Erst spürte ich so etwas wie Nadelstiche in meine Schenkeln, dann wurde es zu einem Prickeln, das sich bis zu meinen Zehenspitzen fortsetzte. Mit aller Kraft versuchte ich, meine Füße gegen die Fußstützen des Rollstuhles zu drücken.
Ich fühlte den Druck gegen meine Fußsohlen… dann die Anspannung in meinen Beinen. Als ich dieses Mal versuchte, aus meinem Stuhl aufzustehen, war ich nicht mehr vollkommen von der Kraft in meinen Armen abhängig. Meine Beine unterstützten mich dabei. Sie antworteten auf die Befehle, die ich ihnen gab. Ich schaffte es! Ja, ich schaffte es!… Ich zitterte am ganzen Körper, aber ich fühlte etwas…
Ich würde es schaffen aufzustehen! Ich versuchte, etwas zu tun, was ich fast mein ganzes Leben lang als völlig selbstverständlich angesehen hatte. Aber jetzt kam es mir vor wie etwas ganz Einmaliges! Mein Herz pochte laut vor Aufregung und Glück. Mein Körper reagierte wieder!
Es schien nicht wenige Augenblicke, sondern Stunden zu dauern, aber ich richtete mich aus dem Stuhl auf, wobei ich mich stark mit den Armen abstützte. Genau in dem Moment, in dem ich mich vollständig aufrichtete – meine Beine sahen aus wie Zahnstocher und zitterten, als hätte man ihnen ein zu großes Gewicht zugemutet – kam Tony herein. Er blieb stehen und sah mich verdutzt an.
»Tony… Ich habe es einfach ausprobiert, und es ging! Meine Beine funktionieren, Tony! Sie fangen an, wieder richtig
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