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Nacht über Eden

Nacht über Eden

Titel: Nacht über Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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ziemlich zerknittert. Es war, als hätte er Kleider angezogen, die eigentlich in die Wäsche gehören.
    »Guten Morgen«, sagte er, als würde er mich an diesem Tag zum ersten Mal sehen. Ich starrte ihn nur verwundert an, aber er schien es nicht zu bemerken. Überhaupt beachtete er mich kaum, sondern trat zum Fenster, verschränkte die Hände auf dem Rücken und blickte hinaus, wobei er auf den Fersen hin-und herwippte. Dann fuhr er sich rasch mit der Zunge über die Lippen, blies kurz die Backen auf und nickte. Erneut hatte ich das Gefühl, daß er zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herwanderte.
    Mit der Zeit begann mich sein Verhalten ernsthaft zu beunruhigen.
    »Ich fühle mich heute morgen um einiges kräftiger, Tony«, sagte ich. »Wirst du mich heute auf meinem ersten Ausflug begleiten?«
    Er schien meine Frage gar nicht gehört zu haben.
    »Ich verspreche es dir«, begann er unvermittelt. »Ich werde dir ein Zuhause geben mit allem, was dazugehört…«
    »Ein Zuhause? Ich verstehe nicht, Tony. Ich habe ein Zuhause…«
    »Nach allem, was ich bisher von dir weiß, gewöhnst du dich rasch an neue Dinge. Warte nur ab, auf längere Sicht wirst du dich in Boston wohler fühlen als ich selbst, und ich bin schließlich hier geboren.« Er begann zu lachen, verstummte jedoch plötzlich wieder. Verächtlich schürzte er die Lippen, und sein Gesichtsausdruck wurde hart. »Aber ich dulde nicht, daß deine hinterwäldlerischen Verwandten hier herkommen!
    Niemals!«
    »Meine hinterwäldlerischen Verwandten?« Ich hoffte, er meinte damit nicht Luke. »Was sagst du da, Tony? Du machst mir Angst.«
    Er blinzelte ein paarmal, so als würde er gerade aus einem Traum erwachen. Dann schüttelte er den Kopf.
    »Tony? Ist alles in Ordnung?«
    »Was? O ja. Es tut mir leid… Ich war völlig in Gedanken.
    So, jetzt muß ich nach unten und ein paar geschäftliche Dinge erledigen«, sagte er. »Rye wird heraufkommen, um das Tablett zu holen«, fügte er zerstreut hinzu und eilte hinaus.
    Mein Herz pochte. Was war nur heute morgen mit ihm los?
    War er deshalb so verwirrt, weil er mir beim Baden und Anziehen geholfen hatte? Ich war froh, als Rye Whiskey erschien, obwohl auch er nicht sehr glücklich dreinblickte.
    »Wie geht es Ihnen heute morgen, Miß Annie?«
    »Ich fühle mich schon um einiges kräftiger, Rye, danke.«
    Er nahm das Tablett und wandte sich zum Gehen. »Rye! Ist mit Mr. Tatterton alles in Ordnung?«
    »Ich denke schon. Er sitzt in seinem Büro und arbeitet.«
    »Er hat vorhin so seltsame Dinge gesagt, und einige Augenblicke lang schien es, als wüßte er nicht einmal, daß er mit mir redet.«
    »Vielleicht hatte er einen Tagtraum«, meinte Rye. »In seinem Alter sind die Leute morgens ein bißchen verwirrt, wenn sie noch nicht lange auf den Beinen sind.«
    »Er war bereits längere Zeit auf. Und was das Alter betrifft –
    Sie sind doch sogar älter als Tony, Rye, und Sie sind am Morgen nicht verwirrt, oder?«
    »Doch, Ma’am. Manchmal schon. Besonders nach so einer Nacht.«
    »Was war denn gestern nacht?« fragte ich beunruhigt. Er schwieg und blickte verlegen zu Boden. »Was ist hier los, Rye? Bitte sagen Sie es mir!«
    »Der alte Rye möchte nichts Unpassendes sagen, Miß Annie, aber bleiben Sie noch lange hier?«
    »Nein. Ich mache jetzt rasch Fortschritte.«
    »Das ist gut. Die Geister sind schrecklich aufgeregt. Ich habe sie die ganze letzte Nacht herumwandern gehört.«
    »Ach so, die Geister?« Ich lächelte.
    »Ja, genau die. Miß Annie, ich hoffe, Sie werden ganz schnell gesund und gehen nach Hause. Nicht, daß der alte Rye Sie nicht gerne hier hätte. Ich möchte nur nicht, daß Ihnen was passiert.«
    »Gut, ich werde meine Augen offenhalten, Rye«, sagte ich in scherzhaftem Tonfall, doch er verzog keine Miene. Mit Geistern und Gespenstern war schließlich nicht zu spaßen. Er nickte nur bedeutsam und ging mit dem Tablett hinaus.
    Um auf andere Gedanken zu kommen, setzte ich mich wieder an meine Staffelei. Vielleicht lag es an meinem neugewonnenen Lebensmut, jedenfalls wollte ich jetzt lieber ein fröhlicheres, farbenfrohes Bild malen. Ich konzentrierte mich auf die Bäume und das Laubwerk im Hintergrund des Grabmals und mischte ein ganz helles Grün für das Gras. Den Himmel malte ich dunkelblau statt grau. Ich beschäftigte mich mit allen Einzelheiten auf dem Bild außer mit dem Mann, der vor dem Grabmal kniete.
    Kurz nach dem Mittagessen kam Drake. Er stürmte

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