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Nacht über Eden

Nacht über Eden

Titel: Nacht über Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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damals am Grabe meiner Eltern gekniet war. Es schien, als wäre er aus meinen Skizzen und Bildern herausgetreten, als hätte er meine Phantasiewelt verlassen, um jetzt leibhaftig vor mir zu stehen.
    19. KAPITEL

    AUF DER ANDEREN SEITE DES IRRGARTENS

    »Wer sind Sie?« Fasziniert starrte ich zu ihm hinauf. Er war aus dem Schatten getreten und stand, die Hände in den Hosentaschen, vor mir. Er war zwar groß und hager, doch er hatte breite Schultern. Sein widerspenstiges kupferbraunes und an den Schläfen graumeliertes Haar fiel in leichten Locken auf den weißen Kragen seines Malerkittels.
    Er hatte sehr feine Gesichtszüge, obwohl er nicht eigentlich gutaussehend war. Sein Gesicht erinnerte eher an eine antike griechische Statue. Nun neigte er den Kopf ein wenig zur Seite und zog eine seiner dunklen, kräftigen Augenbrauen hoch, während er mich aufmerksam betrachtete. Sein Blick war so interessiert, daß ich mich geschmeichelt fühlte. Er schien etwas an mir entdeckt zu haben, was ihn sichtlich bewegte, ja rührte.
    Seine Augen wurden schmal, wie ich es von Tony kannte, wenn sein Blick sich eintrübte und er wirres Zeug zu stammeln begann. Warum sagte er nichts? Er grüßte mich nicht einmal.
    Ich begann zu zittern, so unwohl fühlte ich mich plötzlich.
    Hastig blickte ich zum Haus, aber niemand war mir gefolgt; niemand wußte, daß ich hier war.
    Als ich mich wieder dem Fremden zuwandte, bemerkte ich, daß sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen hatten. Und in diesem Lächeln, ebenso wie in seinen dunklen, braunen Augen war etwas, das mir ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermittelte.
    »Du brauchst mir nicht zu sagen, wer du bist«, sagte er, und seine Stimme klang warm und beruhigend, beinahe zärtlich.
    »Du bist Heavens Tochter – auch wenn du mit dieser Haarfarbe eher Leigh ähnlich siehst. Sag, ist es deine wirkliche Haarfarbe, oder hast du sie gefärbt wie deine Mutter damals?«
    »Wer sind Sie?« fragte ich abermals und diesmal noch viel eindringlicher. Ich sah ihm an, daß er nachdachte und sich überlegte, ob er weiter mit mir sprechen oder sich rasch zurückziehen sollte. Doch irgend etwas schien ihn zu zwingen, bei mir zu bleiben.
    »Ich? Ich heiße… Brothers. Timothy Brothers.«
    »Aber wer sind Sie? Ich meine, woher wissen Sie so gut über meine Mutter Bescheid? Und woher wußten Sie, daß sie sich die Haare färben ließ?«
    »Ich arbeite für Mr. Tatterton.«
    Ich lehnte mich zurück. Er sah überhaupt nicht aus wie einer der Arbeiter, und Rye hatte mir auch nichts von einem Gärtner erzählt, der so aussah wie er. Sicher, Rye mochte auch einmal etwas vergessen, aber dieser Mann hier sah nicht so aus, als würde er schwere Arbeit verrichten. Er strahlte eine Sanftheit aus, eine Vornehmheit, die eher zu einem geistig arbeitenden Menschen paßte.
    »Oh! Und was arbeiten Sie für Mr. Tatterton?«
    »Ich… entwerfe Spielsachen.«
    »Sie entwerfen Spielsachen?«
    »Sieh mich nicht so erstaunt an, Annie. Irgend jemand muß es doch schließlich tun.«
    »Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte ich überrascht.
    »Oh, mittlerweile kennt jeder deinen Namen. Mr. Tatterton erzählt so viel von dir.«
    Ich konnte meinen Blick nicht von seinen Augen abwenden, denn ich spürte, daß dieser Mann Geheimnisse hütet, die er nicht preisgeben wollte.
    »Und was haben Sie da hinter der Hecke gemacht? Sie werden doch wohl nicht dort Ihre Spielsachen entwerfen?«
    Er warf den Kopf in den Nacken und lachte.
    »Nein, sicher nicht. Ich bin gerade spazierengegangen, als ich dich kommen sah.«
    »Wo wohnen Sie? Ebenfalls in Farthy?«
    »Nein, ich wohne auf der anderen Seite des Irrgartens. Dort entwerfe ich auch die Spielsachen.«
    »Auf der anderen Seite des Irrgartens? Ist das nicht… steht dort nicht eine Hütte?« fragte ich schnell.
    »Oh, du hast von der Hütte gehört?« Ich nickte. »Hat dir deine Mutter davon erzählt?«
    »Nein. Sie hat mir überhaupt nicht viel von Farthy erzählt.
    Sie hatte nie besondere Lust, darüber zu sprechen.«
    Er nickte bedächtig, und sein Gesicht wurde traurig. Dann wandte er die Augen von mir ab und starrte auf den Friedhof der Tattertons. Dabei ließ er die Schultern ein wenig hängen, so wie ich es immer tat, wenn ich in melancholischer Stimmung war. Kurz darauf nahm er seine rechte Hand aus der Hosentasche und kämmte damit sein Haar zurück. Seine Finger wirkten lang, sensibel und stark – die Finger eines Künstlers. Sie waren den meinen sehr ähnlich.

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