Nacht über Eden
daran, als das wirklich so war. Ich fand dich damals trotzdem hübsch… und später fand ich dich entzückend.« Er konnte nicht stillsitzen. »Soll ich dich irgendwo hinfahren?«
»Nein, ich werde eine Weile hierbleiben.«
Er nickte und richtete seine dunkelblauen Augen auf mich.
»Als ich dich vorhin betrachtete, wie du die Augen geschlossen hattest, da… da wollte ich nicht nur so tun als ob.
Es sollte ein echter Kuß sein, Annie«, gestand er.
»Es war ein echter Kuß«, sagte ich, »ein wunderbarer Kuß.«
Er nickte und blickte dann hastig zur Seite, als hätte er bereits zu viel gesagt.
»O Luke, ich habe dich so vermißt.«
Er schob die Zähne vorsichtig über seine Unterlippe und nickte leicht. Ich bemerkte, daß in seinen Augen Tränen standen.
»Ah, du bist ja schon auf. Das ist gut.« Plötzlich stand Fanny in der Tür. »Soll ich dir beim Waschen helfen?«
»Ja, Tante Fanny.«
»Okay. Luke, du verziehst dich am besten; und ich helf Annie beim Aufstehen.«
»Ich werde ihr das Frühstück heraufbringen«, erbot er sich und ging zur Tür.
»Luke«, rief ich. Er drehte sich blitzschnell um. »Danke, aber von jetzt an wird nicht mehr im Bett gegessen. Es gibt keine Invaliden mehr in diesem Haus.«
Er lächelte. »Großartig. Wir werden, sooft du willst, das Gehen mit dir üben.« Er sah zu seiner Mutter.
»Wenn ihr beide noch lang weiterquatscht, geh ich wieder runter. Meint ihr, ich hab sonst nix zu tun?«
»Ich bin schon weg.« Er warf mir ein Lächeln zu und ging hinaus.
»Hast du schon mal jemanden so viel quatschen gehört wie diesen Jungen? Schlägt seinem Großpapa Toby nach, na von mir aus. Der Mann konnte von morgens bis abends auf der Veranda hocken und schnitzen, und dabei quatschte er pausenlos. Und als meine Großmama Annie schon längst tot war, redete er immer noch mit ihr, so als wenn sie noch da gewesen wär.«
»Ich kann das mittlerweile verstehen, Tante Fanny. Es ist so schwer, wenn die Menschen, die man liebt, nicht mehr da sind.
Und manchmal weigert man sich einfach, die Wahrheit zu akzeptieren.«
Sie trat zurück und musterte mich. »Schätze, du hast dich ziemlich verändert, Annie. Bist irgendwie reifer geworden, wahrscheinlich durch diese Tragödie und die ganze Geschichte danach. Vielleicht hast du ‘n paar Sachen über die Menschen gelernt, die ich nie gelernt hab. Meine Großmutter sagte immer, schlechte Zeiten lassen einen weise werden. Bei Heaven war es so, das weiß ich. War um einiges gescheiter als ich.
Klar, ich hab auch schwere Zeiten durchgemacht, aber ich hab mich immer selber bemitleidet. Also kam ich nich dazu, was zu lernen.« Sie schüttelte den Kopf.
»So, jetzt quatsch ich fast schon so viel wie Luke. Muß in der Familie liegen. Kümmern wir uns lieber drum, daß du ins Bad kommst und dich anziehst.«
Mrs. Avery kam herein, um mir zu helfen. Welch ein himmelweiter Unterschied lag zwischen ihrer warmherzigen, mütterlichen Hilfsbereitschaft und Mrs. Broadfields routinierter, mechanischer Art! Alles Geld und die Geste medizinischer Betreuung der Welt konnten liebevolle Pflege nicht ersetzen…
Nach kurzer Zeit war ich gebadet und angezogen, und Luke kam zurück, um dabei zu helfen, mich hinunterzubringen.
»Fertig?« fragte er. Sowohl Mrs. Avery als auch Tante Fanny blickten mich gespannt an. Würde ich nun vielleicht doch darum bitten, daß man mir die Mahlzeiten heraufbrachte, oder würde ich der Welt ohne Mammi und Daddy entgegentreten?
Ich wandte mich Luke zu. In seinen Augen konnte ich lesen, daß er auch weiterhin an meiner Seite sein würde.
»Ja«, sagte ich. »Ich bin soweit.«
Luke ging hinter den Rollstuhl und beugte sich über meine Schulter.
»Es wird gutgehen«, flüsterte er. Und als Tante Fanny und Mrs. Avery uns den Rücken zuwandten, küßte er mich rasch auf die Wange.
22. KAPITEL
SEGEN UND FLUCH DER LIEBE
Sobald wir das Eßzimmer betraten, fiel mein Blick auf die Plätze, auf denen mein Vater und meine Mutter immer gesessen hatten. Die leeren Stühle schienen mich anzustarren, und mein Herz krampfte sich zusammen. Für einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen; alle, auch Luke, sahen zu mir herab. Ihre Gesichter waren von Mitleid erfüllt.
Und dann redeten auf einmal alle durcheinander… Tante Fanny gab Anweisungen, Mrs. Avery beklagte sich über dies und jenes, Roland klatschte in die Hände und kündigte das beste Frühstück von ganz Winnerrow an. Sogar George, der gewöhnlich so stumm wie ein Fisch war,
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