Nacht über Juniper
Gräberland bleiben würde. Aber Journey mußte eine Rechnung begleichen. Feder war seine Frau gewesen. Ein zweiter Blick vermittelte mir die stumme Entschuldigung des Hauptmanns für meine Lage und daß es Dinge gab, die er mir mitteilen wollte, aber nicht zu sagen wagte. Ich widme- te ihm ein fast unmerkliches Achselzucken in der Hoffnung, daß wir noch einen Augenblick für uns bekommen würden. Das war jedoch nicht der Fall. Wisper führte mich von der Mauer auf direktem Wege zur Lady.
Sie hatte sich nicht ein bißchen verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Der Rest von uns war schrecklich gealtert, aber sie blieb ewig zwanzig Jahre jung, strahlend schön mit wunderbarem schwarzem Haar und Augen, in denen ein Mann versinken und der Welt entsa- gen konnte. Wie stets war sie ein solcher Brennpunkt körperlichen Glanzes, daß man sie nicht beschreiben konnte. Eine detaillierte Beschreibung wäre sowieso sinnlos gewesen, denn was ich hier sah, war nicht die wahre Lady. Die Lady, die so aussah, hatte es schon seit vier Jahr- hunderten nicht mehr gegeben, wenn überhaupt. Sie erhob sich und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Sie belohnte mich mit dem leicht spöttischen Lächeln, an das ich mich so gut erinnerte, als ob wir beide ein Geheimnis teilten. Ich berührte leicht ihre Hand und stellte er- staunt fest, daß sie warm war. Wenn ich nicht in ihrer Nähe war, wenn sie nur als ferner Ge- genstand des Entsetzens, gleich einem Erdbeben, in meinem Geist verharrte, dann konnte ich an sie nur in Begriffen wie kalt, tot und todbringend denken. Mehr wie eine Art unheilvoller Zombie denn als ein lebendiger, atmender, vielleicht sogar verwundbarer Mensch. Sie lächelte erneut und bot mir einen Stuhl an. Ich setzte mich und fühlte mich auf groteske Weise fehl am Platze in einer Gesellschaft, die bis auf eines die großen Übel der Welt umfaß- te. Und im Geiste war der Dominator bei uns und warf seinen kalten Schatten. Es wurde bald klar, daß ich nicht hier war, um etwas zu der Besprechung beizusteuern. Für die Schar sprachen der Hauptmann und der Leutnant. Der Herzog und der oberste Wächter Hargadon waren ebenfalls anwesend, trugen aber kaum mehr bei als ich. Die Unterworfenen bestritten den Löwenanteil des Gesprächs mit der Befragung des Hauptmanns und des Leut- nants. Ich wurde nur einmal angesprochen; der Hauptmann fragte mich, inwieweit ich darauf vorbereitet war, Verwundete bei den Kämpfen zu behandeln. Soweit es mich betraf, ging es bei dieser Besprechung nur um eins. Der Angriff war für das Morgengrauen des übernächsten Tages vorgesehen. Er würde so lange währen, bis die Schwarze Burg vernichtet war oder wir nicht mehr angreifen konnten. »Dieser Ort ist ein Leck im Schiffsrumpf des Reiches«, sagte die Lady. »Es muß gestopft werden, oder wir werden alle ertrinken.« Vom Herzog und von Hargadon kam kein Wider- spruch. Beide bedauerten es mittlerweile, sie um Hilfe gebeten zu haben. Der Herzog hatte nun keine Macht mehr im eigenen Lande, und Hargadon erging es kaum besser. Der Wächter vermutete, daß er arbeitslos werden würde, sobald die Bedrohung durch die Burg beendet war. Wenige aus der Schar und keiner der Unterworfenen hatten sich groß bemüht, ihre Miß- achtung gegenüber Junipers sonderbarer Religion zu verhehlen. Und da ich viel Zeit unter den Menschen der Stadt verbracht hatte, konnte ich feststellen, daß sie sie auch nur soweit ernst nahmen, wie die Inquisitoren, die Wächter und ein paar Fanatiker sie dazu zwangen.
Allerdings hoffte ich schon darauf, daß sie eventuelle Veränderungen behutsam vornehmen
würde. Zum Beispiel so behutsam, daß die Schar schon abgerückt sein würde, bevor sie damit anfing. Wenn man mit den Religionen der Menschen spielt, dann spielt man mit dem Feuer. Sogar bei Menschen, denen sie ansonsten egal ist. Religion ist etwas, das einem früh einge- hämmert wird und niemals ganz verschwindet. Und sie vermag Kräfte zu wecken, die sich mit der Vernunft nicht mehr erklären lassen.
Der Morgen des übermorgigen Tages. Totaler Krieg. Mobilisation aller Kräfte, um die Schwarze Burg auszuradieren. Jedwedes Aufgebot der Lady, der Unterworfenen, der Schar und der Stadt Juniper würden zu diesem Zweck im Einsatz sein, solange es eben dauerte. Der Morgen des übermorgigen Tages. Aber so lief es gar nicht. Niemand hatte dem Domina- tor gesagt, daß er warten sollte.
Sechs Stunden vor dem Aufbruch, als die
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