Nacht über Juniper
der mächtigsten. Setz dich wieder hin. Wir müssen uns unterhalten. Ich muß ganz ge- nau wissen, was dieses Mädchen über Raven und Darling weiß.« Ein intensives Verhör brachte mich zu der Überzeugung, daß Lisa nicht genug wußte, um Wispers Argwohn zu wecken. Falls sie nicht den Namen Raven mit dem Mann in Zusam- menhang brachte, der vor Jahren bei ihrer Gefangennahme geholfen hatte. Ich quetschte Shed bis zum Morgengrauen aus. Er bettelte praktisch darum, jede schmutzige Einzelheit seiner Geschichte erzählen zu dürfen. Er hatte ein gewaltiges Beichtbedürfnis. Im Laufe der folgenden Tage, als ich mich wieder in den Stiefel schlich, offenbarte er all das, was in diesen Aufzeichnungen über ihn geschrieben steht. Ich glaube nicht, daß ich vielen Menschen begegnet bin, die mich mehr anwiderten. Gemeinere Menschen, das ja. Von denen sind mir Dutzende über den Weg gelaufen. Größere Schurken gibt es scharenweise. Sheds
Gemisch aus Selbstmitleid und Feigheit machten ihn zu etwas viel Erbärmlicherem.
Armes Schwein. Er war zum Ausgenutztwerden geboren. Und doch… Einen schwachen Funken gab es in Marron Shed, der sich in seinen Beziehun- gen zu seiner Mutter, Raven, Asa, Lisa, Sal und Darling zeigte, den er zwar bemerkte, aber selbst nicht erkannte. Tief in seinem Inneren waren Ansätze von Mildtätigkeit und Anstand verborgen. Es war das allmähliche Wachsen dieses Funkens und seine Auswirkungen auf die Schwarze Schar, die mich dazu verpflichten, sämtliche Einzelheiten über diesen furchtsamen kleinen Mann zu verzeichnen.
Am Morgen nach seiner Gefangennahme fuhr ich in Sheds Wagen in die Stadt und gestattete ihm, die Lilie wie üblich zu öffnen. Im Laufe des Morgens ließ ich Elmo und Goblin für eine Besprechung kommen. Als Shed entdeckte, daß wir uns alle kannten, war er schwer erschüt- tert. Es war schieres Glück gewesen, daß wir ihn nicht schon früher erwischt hatten. Armer Kerl. Die Verhöre hörten und hörten nicht auf. Und wir armen Kerle erst. Er konnte uns nicht alles erzählen, was wir wissen wollten. »Was machen wir mit dem Vater des Mädchens?« fragte Elmo. »Wenn es einen Brief gibt, dann müssen wir ihn uns holen«, gab ich zur Antwort. »Wir können es uns nicht leisten, daß uns irgend jemand noch mehr Probleme macht. Goblin, du kümmerst dich um den Herrn Papa. Wenn er auch nur den geringsten Verdacht hegt, sorge dafür, daß er eine Herzattacke hat.«
Goblin nickte mürrisch. Er fragte Shed nach dem Wohnort von Lisas Vater und machte sich auf den Weg. Eine halbe Stunde später war er wieder da. »Eine große Tragödie. Er hatte kei- nen Brief. Sie hat geblufft. Aber er hat zu vieles gewußt, was unter Befragung ans Tageslicht gekommen wäre.
Diese Geschichte geht mir allmählich an die Nieren. Rebellen zu hetzen war sauberer. Da wußtest du wenigstens, wer wer war und woran du warst.« »Ich gehe lieber wieder rauf. Die Unterworfenen haben vielleicht kein Verständnis dafür, daß ich mich hier unten herumtreibe. Elmo, du läßt besser jemanden in Sheds Nähe.« »In Ordnung. Ab heute wohnt Pfandleiher hier. Wenn der Komiker aufs Töpfchen geht, hält Pfandleiher ihm die Hand.«
Goblin sah nachdenklich in die Ferne. »Raven baut sich ein Schiff. Stellt euch das mal vor. Was glaubt ihr, was hatte er vor?«
»Ich glaube, er wollte einfach auf das offene Meer hinaus«, sagte ich. »Ich habe mal gehört, daß es weit weg von hier Inseln geben soll. Vielleicht sogar einen ganzen Kontinent. Da könnte sich jemand schon ziemlich gut verstecken.« Ich ging wieder den Hügel hinauf und lungerte zwei Tage lang dort herum, außer wenn ich mich davonstehlen und Shed weiter ausquetschen konnte. Es passierte aber auch nicht das verdammteste kleinste bißchen. Niemand versuchte eine weitere Lieferung durchzubringen. Ich glaube, Shed war der einzige Narr im Leichengeschäft.
Manchmal starrte ich auf die grimmigen schwarzen Brüstungen und überlegte. Sie hatten auf
Feder geschossen. Da drinnen wußte jemand, daß die Unterworfenen Ärger bedeuteten. Wie lange würden sie wohl brauchen, bis sie begriffen, daß sie abgeschnitten worden waren und etwas unternahmen, um die Fleischversorgung wieder rollen zu lassen?
EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL
Juniper: Die Rückkehr
Zwei Tage nach seiner Gefangennahme war Shed immer noch völlig durcheinander. Jedes Mal, wenn er den Schankraum überblickte und einen dieser Hundesöhne aus der Schwarzen Schar sah, war er nahe daran, die Nerven zu verlieren. Er
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