Nacht unter Tag
irgendjemand etwas gesehen haben musste.«
»Aber das geschah nicht.« Eine Klarstellung ohne Umschweife.
»Nein, es geschah nicht.« Er drehte sich um und schaute Bel an. Sein Gesichtsausdruck spiegelte seine Verwirrung. »Niemand hat sich gemeldet. Weder wegen der Entführung selbst noch wegen des Verstecks, wo sie festgehalten worden war. Niemand gab der Polizei eine einzige glaubwürdige Augenzeugenaussage. Es gab natürlich die üblichen Spinner. Und Leute, die anriefen und es gut meinten. Aber nachdem man alle überprüft hatte, wurde jeder einzelne Hinweis verworfen.«
»Das scheint merkwürdig«, sagte Bel. »Gewöhnlich gibt es irgendetwas. Selbst wenn es nur ein Streit unter Kriminellen ist.«
»Das meine ich auch. Die Polizei schien es allerdings nicht eigenartig zu finden. Aber ich habe mich immer gefragt, wie sie es geschafft haben, ohne dass ein einziger Zeuge irgendeine Einzelheit bemerkte.«
Bel sah nachdenklich drein. »Vielleicht gab es unter den Kriminellen keinen Streit, weil sie keine Kriminellen waren.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich bin nicht sicher«, antwortete sie langsam.
Grant sah frustriert aus. »Das ist das Problem mit diesem Fall.« Er fing an, auf den Landrover zuzugehen. »Niemand war sich je in Bezug auf irgendetwas sicher. Das Einzige, was feststeht, ist, dass meine Tochter tot ist.«
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Sonntag, 1. Juli 2007,
East Wemyss
K aren hatte nie eine besonders hohe Meinung von Studenten gehabt. Das war einer der Gründe, weshalb sie sich entschlossen hatte, direkt nach der Schule der Polizei beizutreten, obwohl ihre Lehrer sie von einem Studium zu überzeugen versuchten. Sie sah keinen Sinn darin, vier Jahre lang Schulden anzuhäufen, wenn sie gutes Geld verdienen und eine richtige Arbeit verrichten konnte. Und nichts, was sie vom Leben ihrer früheren Schulkameraden mitbekam, hatte ihr das Gefühl gegeben, einen Fehler gemacht zu haben.
Aber River Wildes Truppe zwang sie zuzugeben, dass vielleicht doch nicht alle Studenten verbummelte Drückeberger waren. Sie waren kurz vor elf angekommen, luden ihre Sachen aus und hatten bis um zwölf ihre Abdeckplanen ausgebreitet und Scheinwerfer aufgestellt. Und sie hatten es organisiert, dass jemand Pizza besorgte, hatten ihr Essen hinuntergeschlungen und mit der schweren Aufgabe begonnen, die sie zügig und zugleich vorsichtig angehen mussten: die Tonnen von Felsbrocken und Geröll ohne Geräte wegzuschaffen. Als sie erst einmal die rhythmische Arbeit mit Pickeln, Kellen, Sieben und Pinseln aufgenommen hatten, ließ River sie machen und gesellte sich zu Karen, die an dem Tisch des Vereins zur Erhaltung der Höhlen saß und sich ziemlich überflüssig vorkam.
»Sehr eindrucksvoll«, meinte Karen.
»Sie kommen nicht viel raus«, entgegnete River. »Also, jedenfalls nicht im professionellen Sinn. Sie können es kaum erwarten.«
»Wie lange, meinst du, wird es dauern, so viel von dem Gestein wegzuräumen, dass der Gang nicht mehr blockiert ist?«
River zuckte mit den Achseln. »Es kommt darauf an, wie weit der Gang verschüttet ist. Es ist unmöglich, das zu erraten. Einer meiner Doktoranden hat seinen ersten Abschluss in Geologie und sagt, wenn Sandstein sich zu bewegen beginnt, sei er notorisch unvorhersehbar. Wenn wir von oben her einiges weggeräumt haben, können wir einen kleinen Bohrer mit einer Sonde reinschicken. Damit können wir eine ungefähre Vorstellung gewinnen, wie weit es hineinreicht. Wenn wir auf Luft stoßen, können wir eine Glasfaserkamera reinschieben. Dann werden wir sehr viel deutlicher sehen, womit wir es zu tun haben.«
»Ich bin wirklich sehr dankbar dafür«, beteuerte Karen. »Denn ich bin hier auf etwas unsicherem Gebiet.«
»Das dachte ich mir. Willst du es mir erklären? Oder ist es besser, wenn ich nichts weiß?«
Karen grinste. »Du hast das für mich organisiert. Da ist es besser, du weißt, worauf du dich einlässt.« Sie fasste für River die wichtigsten Punkte ihrer Ermittlungen zusammen und wurde ausführlicher, wenn River sie um Einzelheiten bat. »Was meinst du?«, schloss sie. »Glaubst du, ich werde es hinbekommen?«
River deutete mit einer Handbewegung an, es könne so oder so ausgehen. »Wie schlau ist dein Chef?«, wollte sie wissen.
»Er ist eine Pappnase«, erwiderte Karen. »Hat den Durchblick, den man mit ’nem Brett vor dem Kopf gewinnen kann.«
»In diesem Fall könntest du Glück haben.«
Bevor Karen antworten konnte, trat eine vertraute Gestalt aus dem Dunkel des
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