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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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mechanisch aus, ohne nachzudenken. Ihre Augen brann ten von den scharfen Ausdünstungen des Spritzlacks. »Warst du mal in Berlin?«, fragte sie.
    Gerda schüttelte den Kopf. »Würde gern hinfahren. Mein Sohn ist jetzt dort, glaub ich.«
    »Du weißt es nicht sicher?«
    »Er ist einbestellt worden, und es hieß, sie kommen zuerst nach Berlin und fahren dann von dort aus in den Osten. Ist ein seltsames Gefühl, ihn so loszulassen. Weißt du, ich hab ihn von Geburt an begleitet, ich war an jedem seiner Tage beteiligt, und jetzt, wo er achtzehn ist, muss ich ihn plötzlich loslassen.«
    »Dein einziges Kind?«
    »I wo, ich hab das Mutterkreuz in Silber, wir haben sechs. Aber er ist der Älteste. Er war mein Erstes, weißt du, deshalb hab ich eine besondere Verbindung zu ihm.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Im Osten soll es schlecht stehen. Womöglich kommt er nie wieder nach Hause.« Sie wischte sich über die Augen.
    »Verstehe ich, dass du dir Sorgen um ihn machst.«
    »Ich bin so hilflos! Ich kann nichts mehr für ihn tun.«
    Der Sohn dieser Frau war ein weiterer Deutscher, der auf die Russen und Ukrainer schoss, auf Familienväter und Schulabgänger. Trotzdem tat ihr die Frau leid.
    Wenn sie geflohen war, würde man Gerda aushorchen. Und die würde die Geheime Staatspolizei unwissentlich auf eine falsche Fährte locken. Sie würden glauben, dass sie nach Berlin unterwegs war.
    Zur Mittagspause steckte Gerda ihr ein Brot zu, bestrichen mit Margarine und Pflaumenmus. »Ihr habt doch so wenig«, sagte sie.
    Nadjeschka verschlang es gleich an Ort und Stelle. »Ist besser«, sagte sie zwischen den Bissen, »wenn der Werkschutz das nicht sieht.« Es schmeckte himmlisch. Und es würde ihr helfen, länger ohne Nahrung durchzuhalten. »Danke, Gerda.«
    Die Frau tätschelte ihr mütterlich den Arm.
    Kaum hatte er den Rathaussaal betreten, da wusste Georg wieder, weshalb er solche Ortsversammlungen seit jeher mied . Hunderte Menschen redeten durcheinander, versuchten, einander zu übertönen, lachten und gestikulierten unentwegt. Die Fülle an Eindrücken war ihm zu viel. Er blieb neben der Tür stehen. Draußen war die Luft herrlich klar gewesen, aufgefrischt vom Regen. Hier drinnen roch es muffig.
    Der Saal war festlich geschmückt, Fahnen hingen von den Wänden, und man hatte grüne Girlanden aufgehängt. Das Podium trug eine Hakenkreuzschürze. An der Stirnseite des Saals hing ein gewaltiges Hakenkreuzbanner.
    Jeder, der hereinkam, schüttelte ihm die Hand. Sie hielten ihn wohl für eine Art Begrüßungsdienst. Er sah einen freien Stuhl in der Nähe und setzte sich. Neben ihm unterhielten sich zwei Männer über Fußball, der eine legte sich für die Spieler von 08 Neheim ins Zeug, der andere war ein Anhänger von Germania 09, dem Neheimer Rivalen. Sie ereiferten sich immer mehr. »08 war in der Gauliga, mein Freund!« – »Ja, aber dann seid ihr abgestiegen, und wir waren Meister, vor euch.« Sie redeten, als ginge es um ihre eigene Ehre, als hätten sie selbst auf dem Spielfeld gestanden.
    Endlich fanden sie einen gemeinsamen Nenner in der Begeisterung für Schalke 04, den gegenwärtigen deutschen Meister. Die seien sich nicht zu schade gewesen, mehrfach in den besetzten Ländern zur Truppenbetreuung gegen Garnisonsmannschaften zu spielen.
    Sie rekapitulierten die Spieleraufstellung bei der letzten Fußballweltmeisterschaft 1934, als Deutschland auf dem dritten Platz landete. Einer der beiden Männer behauptete, damals einige Spiele in Italien gesehen zu haben, was der andere anzweifelte. Um seine Erzählung zu belegen, schmückte der Erste sie immer weiter aus. Er beschrieb, wie das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied über den Platz gedonnert sei, obwohl doch Italien den ersten und die Tschechoslowakei den zweiten Platz belegt habe.
    Georg war angewidert von ihrem Gespräch. Belangloser konnte man in seinen Augen die Lebenszeit nicht vergeuden. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als zuzuhören, ihnen ab und an beizupflichten oder zumindest interessiert zu nicken.
    Sie gingen das Länderspiel vom November letzten Jahres durch: das Deutsche Reich gegen die Slowakei, in Bratislava. »Fünf zu zwei!«, krakeelten sie. »Fünf zu zwei! August Klingler hat ihnen allein drei Tore eingeschenkt.«
    Genau solche Typen hatten Georg zeitlebens das Gefühl gegeben, kein richtiger Mann zu sein. Laute, kräftig gebaute Jungs. Sportplatzhengste. Schon in der Schulzeit hatte er sie gemieden, weil er ihre Pöbeleien

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