Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
hätte es eine Karte mit Blumen auch getan. Oder wollte er mich persönlich in Augenschein nehmen, um seine Vorstellungen von einer Heldin mit der Realität abzugleichen?
Und woher kam eigentlich so schnell das ganze Kleingedruckte? Sicher haben sie keinen Vordruck für diese Fälle an Bord, oder? Und wie konnte Alex so schnell seine Unterschrift daruntersetzen? Muss so etwas nicht ausführlich geprüft werden? Ja, was sollte das alles überhaupt, und wer war eigentlich der freundliche ältere Herr, den ich am ersten Abend gesehen habe? Hätte der mich nicht empfangen können? Das Gedankenkarussell in meinem Kopf beginnt sich unaufhörlich zu drehen und wie im Film fliegen alle Dinge gleichzeitig vor meinen Augen hin und her … hin und her.
Gewaltsam löse ich mich davon und verbanne die Fragen irgendwie in meinen Hinterkopf. Nicht das Pferd von hinten aufzäumen. Apropos Pferd.
„ Sully?“, beginne ich zögernd und er sieht mich aufmerksam an. „Was wollte der Kapitän eigentlich von mir?“
Er zuckt mit den Schultern. „Das hat er uns nicht wissen lassen, nur dass er Sie kennen lernen und Ihnen danken möchte.“
Ich starre weiter vor mich hin, während sich der Fahrstuhl langsam weiter nach unten bewegt. „Gibt er sich immer so förmlich?“ Sully nickt und ich tue die Grübeleien ab. „Wahrscheinlich hat er mich früher erwartet“, witzele ich und Sullys Lächeln wird plötzlich künstlich.
„ Er hat darauf Rücksicht genommen, dass Sie erst sehr spät ins Bett gekommen sind.“
Das ist es also. Der feine Herr hat warten müssen und das hat ihm wohl nicht gepasst. Auf der anderen Seite kann er aber wohl kaum erwarten, dass ich sofort springe, wenn er pfeift. „Glauben Sie mir, Sully. Wenn ich früher bei ihm erschienen wäre, wäre ich zwar eine glänzende, aber keine umgängliche Erscheinung gewesen.“
Er nickt. „So ähnlich habe ich es ihm auch zu erklären versucht.“
Immerhin etwas.
Er grinst wieder und ich falle darin ein. Das wäre ein Gespräch gewesen, und an dessen Ende hätte er einen Besen und eine Schaufel gebraucht. So schnell, wie ich in Flammen aufgegangen wäre, hätte da auch kein Sunblocker geholfen. Was für eine Vorstellung! Und dann hätte er erklären müssen, was da geschehen ist, und keiner hätte ihm geglaubt.
„ Was ist der Sicherheitschef denn für ein Mann, Sully?“
Er legt die Stirn in Falten. „Mr. Morgan ist ein gründlicher Mann.“ Morgan? Moment mal, da klingelt etwas in meinem Kopf. „Ich glaube, es handelt sich hierbei auch nur um reine Formalitäten. Immerhin haben Sie das Mädchen ja gefunden.“
Es scheint ihn nicht weiter zu beschäftigen und das sollte es mich eigentlich auch nicht. Und doch. Morgan … Morgan … Morgan. Irgendetwas sagt mir das.
Der Fahrstuhl hält auf Deck 2 und Sully führt mich durch die hier unausweichliche Menschenmenge zur Rezeption. Dort nimmt uns eine freundliche Rezeptionistin in Empfang. Die sehen auch alle gleich aus. Dasselbe freundlich verständige Lächeln, dieselbe ruhige Art – beinahe gruselig. Sully erklärt ihr kurz unser Anliegen und lässt sie Mr. Morgan informieren.
Um mir während des Wartens die Zeit zu vertreiben, wende ich mich an Sully. „Haben Sie schon etwas von Sharroll gehört? Hat sie es geschafft?“
„ Sharroll?“
„ Das Mädchen, von letzter Nacht. Ihr Name ist Sharroll.“
Sully schaut verlegen. „Sie müssen entschuldigen, dass ich ihren Namen nicht sofort parat hatte.“ Ich winke ab.
„ So viel man hört, geht es ihr wohl besser. Aber sie muss noch ein oder zwei Tage auf der Krankenstation bleiben.“ Na wenn das mal keine guten Nachrichten sind.
Bevor wir unser Gespräch weiterführen können, biegt ein Mann um die Ecke und steuert direkt auf uns zu. Er trägt ebenfalls die Schiffsuniform, dazu aber ein Funkgerät in der Brusttasche. Die Antenne schaut hinaus. Er sieht beinahe so aus, als wäre er einem Agentenfilm entsprungen und hätte dort für den Secret Service gearbeitet.
… und natürlich erkennen ich ihn sofort wieder. Das kantige Gesicht, der breite Brustkorb, die Ausstrahlung eines Leguans. Mr. Morgan ist genau der Mann, dem ich bereits zweimal begegnet bin. Einmal nach dem unsäglichen Missverständnis mit Cassandra, dem Zimmermädchen, und ein weiteres Mal im Wintergarden Café, als Collin Sharroll belästigte. Undurchdringlich mustert er mich und ich muss zugeben, dass ich mich nicht traue, das Innere seiner Gedanken näher zu erforschen. Der Mann ist
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