Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
mir unheimlich, so wie es nur selten jemand bisher war.
Wir begrüßen uns knapp und Sully zieht sich zurück. Just in diesem Moment scheint ihm auch aufzugehen, dass er uns bereits gegenseitig vorgestellt hat.
Wir stehen uns eine Weile schweigend gegenüber, dann ertönt Mr. Morgans tiefe Bassstimme: „Lasen Sie uns doch einen kleinen Spaziergang machen, Miss Ashton.“ Ich bin überrascht und er lacht. „Dachten Sie, ich verschleppe Sie in ein dunkles Hinterzimmer und führe dort ein Verhör durch?“
Unwillkürlich muss ich nicken. „So etwas in der Art, hatte ich angenommen, ja.“
Er lacht dröhnend und ist mir damit um Längen sympathischer als der Kapitän.
„ Nein, Miss Ashton. Wir sind weit davon entfernt.“
Damit schlendert er los gen Freitreppe, auf der sich nur wenige Menschen tummeln und die hinauf auf Deck 3 führt. Er macht eine einladende Geste und ich folge ihm. In fast beiläufigem Ton beginnt er dann unsere Unterhaltung.
„ Darf ich Ihnen erst einmal ein Kompliment für Ihre Garderobe machen?“ Ähm, das hatte ich jetzt nicht erwartet.
„ Natürlich dürfen Sie das, aber ich bin mir nicht sicher, warum.“
Er mustert mich von der Seite und nimmt die erste Stufe der Treppe. „Sehen Sie es einmal so: Wir sind hier auf meinem Schiff. Mitten im Atlantik. Mehrere hundert Seemeilen entfernt von der nächsten Zivilisation …“ Skeptisch sehe ich ihn an und er bricht sofort den Satz ab. Unklar ist mir jedoch, ob er damit auf meinen Gesichtsausdruck oder auf etwas anderes reagiert.
„ Ihr Schiff?“
Er lacht. „Na gut, genau genommen gehört es der Reederei. Aber seien wir ehrlich. Da ich den Sicherheitsdienst an Bord leite, kann ich es durchaus als mein Schiff bezeichnen. Niemand wird von Bord gehen, wenn ich es verhindere.“ Gemeinsam steigen wir langsam die Stufen hinauf.
„ Das ist ein interessanter Standpunkt.“
„ Nicht wahr?“
Auf halber Treppe bleibt er stehen und mustert mich erneut. „Ich brauche also niemanden in dunkle Räume zu sperren. Hier auf dem Schiff entkommt mir niemand und ich habe Zeit. Wir haben gerade mal zwei Drittel unserer Reise hinter uns, und die einzige Möglichkeit von Bord zu entkommen ist ein Sprung in den Ozean. Was glauben Sie, wie oft so etwas vorkommt?“
Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was er mir mitteilen will, oder ob es da gerade nichts zu verstehen gibt. Kurzerhand beschließe ich, erst einmal mitzuspielen.
„ Dieser Punkt, geht eindeutig an Sie, Mr. Morgan“, lache ich und versuche mir dabei meine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen. Es mag ja eine Sache sein, sich dieser Tatsache halbwegs bewusst zu sein. Es ist aber eine ganz andere, wenn es einem jemand ins Gesicht sagt, der sich des Ausmaßes dieser Wahrheit bewusst ist.
„ Sie sind eine merkwürdige Frau, Miss Ashton.“
Perplex bleibe ich ebenfalls stehen. „Wie meinen Sie das?“
„ Nun, da wäre zum einen Ihre Garderobe. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, Sie möchten unbedingt ein möglichst unscheinbares Bild von sich abgeben.“ Er lächelt still, nimmt die nächste Stufe in Angriff und ich folge ihm aufmerksam.
„ Wie kommen Sie darauf?“
Während sein Blick unaufhörlich über Deck 2 wandert, das Stufe für Stufe unter uns verschwindet, fährt er fort: „Ich bitte Sie. Ein helles Beige sagt: ‚Vergiss mich ganz schnell wieder’. Einzig ein freundliches Hellgrau wäre noch unauffälliger gewesen.“ Er geht weiter und ich bin beeindruckt von diesen psychologischen Kenntnissen.
Unbeirrt fährt er weiter fort: „Wenn Sie sich so kleiden, verschwinden Sie schnell in der großen Masse. Man streicht Sie einfach aus seinem Gedächtnis, weil Sie dem Auge des Betrachters nichts bieten, an dem er sich festhalten und sich damit an Sie erinnern kann.“ Dem kann ich nichts hinzufügen.
„ Ich glaube einfach nicht, dass Sie der Typ Mensch sind, der sich unscheinbar in einer Menschenmenge verstecken möchte.“ Überraschend schnell dreht er den Kopf und fixiert mein Gesicht. Alles, was er darauf sieht, sind jedoch nur hochgezogene Augenbrauen. Er mag mich ja überrascht haben, aber mit so simplen Tricks kann er mich nicht aus der Reserve locken. „Sie schweigen?“ Er mustert mich erneut, und da er eine Stufe über mir steht hat er einen Vorteil.
Ganz das Unschuldslamm, blicke ich freimütig zurück. „Ich lausche Ihren Erklärungen und bin fasziniert von der Menschenkenntnis, die sich da vor mir entfaltet.“
Seine
Weitere Kostenlose Bücher