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Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myrna E. Murray
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läuft dieser eine Song in meiner Playlist und hilft mir, klar und sachlich zu bleiben. Mit diesem Song haben Die Krupps einfach ein ideales Lied geschaffen. Seit ich den ersten Blick auf die Akte geworfen habe, die Nicole mir gebracht hat, kann ich beinahe nicht mehr klar denken.
    Sie enthält Alex’ Leben. Verpackt in Zeitungsartikel, Fotos, Kopien von halb offiziellen, halb inoffiziellen Dokumenten, Abschlusszeugnissen. Nur die Kontoauszüge fehlen, aber die hätten mich auch nicht weiter aus der Fassung bringen können. Oh Mann! Ganz obenauf lag eine kleine Notiz in einer geschwungenen und mir nur allzu bekannten Handschrift: „Damit Du ein Bild bekommst. J.“
    Eine ganze Zeit lang habe ich im Schneidersitz auf dem Bett gesessen und mich durch ein Leben gegraben, welches mit dem meinen zwar nicht identisch, das aber beinahe genauso chaotisch verlaufen ist. Oder ist tragisch das richtige Wort? Es ist geprägt von einem alten Namen mit entsprechend hohen Erwartungen von Seiten des Vaters. Nur leider ist dieser sehr früh und sehr tragisch gestorben, was die Mutter zum Alkohol brachte. Die Familie sagte sich von beiden los und nur der Name blieb. Es häufen sich Einträge aus Akten eines deutschen Jugendamtes, die von einer, sagen wir mal, sehr … gewaltgeprägten … Kindheit erzählen.
    Dabei sind diverse Aufenthalte in Krankenhäusern und Rückgaben aus Pflegefamilien, später Kurzaufenthalte in Heimen oder Wohngruppen. Das Ganze hört erst auf, als er wohl Ende 14, Anfang 15 war. Von da an findet man nur die besten Noten, diverse Auszeichnungen und später Abschlüsse mit Empfehlungen. Richtig ins Staunen komme ich, als ich ihn auf der Absolventenliste der Cambridge Faculity of Law finde.
    Neben dem Absolventenfoto liegt ein Schnappschuss. Auf dem sieht man Alex und eine wirklich jüngere, dennoch unverkennbare Fassung von Ben im knappen Sportdress. Zwischen Alex und Ben erkenne ich Fay. Jung und ein absoluter Hingucker. Hinter den dreien einen strengen älteren Mann, in dem ich augenblicklich Fays und Bens Vater erkenne. Die Ähnlichkeit ist einfach zu groß. Lange starre ich das Foto an und langsam lösen sich ein, zwei Knoten in meiner Brust.
    Der Mann legt anerkennend seine Hand auf Alex’ Schulter, während er Ben diese Aufmerksamkeit nicht zukommen lässt. Ben sieht auch irgendwie … unzufrieden aus, während Alex einfach nur in die Kamera strahlt. Auf der Rückseite steht in der gleichen Handschrift ein Vermerk: „Rate mal, wer die Studiengebühren von deinem Anwalt bezahlt hat.“
    Ich muss nicht raten, denn jetzt ergibt vieles einen anderen Sinn. Aber ist er wirklich noch „mein Anwalt“? Einen Blick auf die Uhr werfend erkenne ich, dass es bereits kurz nach fünf Uhr und damit der Morgen angebrochen ist. Gedankenversunken betrete ich den Balkon und bemerke, dass es angefangen hat zu schneien. Unten auf dem Parkplatz ist nun mehr und mehr ein emsiges Treiben im Gange und vereinzelt sind noch, oder besser schon, neue Passagiere dabei, sich im Terminal zu melden.
    Ein kalter Wind fegt an der Bordwand entlang und mich fröstelt für einen Moment. Ein letztes „To the hilt“ ertönt und ich lösche via Fernbedienung die Programmierung. Stille überkommt mich. Das ist ja alles sehr interessant, aber was mache ich jetzt damit? Ein bisschen fühle ich mich wie ein Einbrecher hinter feindlichen Linien. Sicher, er hätte mir das alles erzählen oder andeuten können, aber das ist wohl zu viel verlangt für den Augenblick. Und hey, ich habe ihn mit der für ihn möglicherweise doch absurden Aussage „Ich bin ein Vampir“ vielleicht ein bisschen überrumpelt. Aber das ist kein Grund … um was, bei mir zu bleiben?
    Ich weiß einfach nicht, wo mir der Kopf steht. Entschlossen kehre ich zurück in die Kabine, packe die Unterlagen der Akte zusammen und lege sie auf den Tisch – möglichst weit weg von mir. Dann ziehe ich mich aufs Bett zurück und wickele mich in die Decke. Es hat einfach einen Sinn, warum ich so wenig Privates wie möglich über meine Klienten wissen möchte. „Er ist aber nicht dein Klient“, flüstert es in mir. Stimmt. Es ist schlimmer. Ich kann nicht mehr, ich schließe einfach die Augen.
    Irgendwann später kommt Nicole leise zurück in die Kabine. Sie riecht nach Kaffee und frischem Obst. Leise zieht sie sich in eine etwas abgelegenere Ecke zurück und beginnt zu lesen. Jedenfalls schließe ich das aus den, wenn auch leisen, Geräuschen. Die Frau weiß tatsächlich, was sie

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