Nachtfalter
entlassen. Außerdem gibt es noch zwei weitere Argumente, die für mein Schweigen sprechen. Katerina fährt morgen abend nach Thessaloniki, und ich möchte nicht, daß sie sich wegen mir Sorgen machen muß. Und Ousounidis kommt heute zum Mittagessen, weil er morgen Nachtdienst hat. Es würde keinen guten Eindruck machen, ihn mit einer Miene zu begrüßen, als hätten wir ihn zum Totenmahl eingeladen.
Es gibt da allerdings noch eine andere, viel schlimmere Zwickmühle: Mit den Hinweisen, die ich mühsam zusammengetragen habe, hat der Ministerialdirektor die beiden Politiker in der Hand. Er entzieht dem Exminister den Boden für seine parlamentarische Anfrage, gleichzeitig kommt er ihm entgegen, indem er mich von den Nachforschungen abzieht. Die beiden Politiker bekommen einen neuen Chef und stehen nicht mehr unter Koustas’ Einfluß, sondern unter dem des Ministerialdirektors. Ich frage mich, was für die beiden schmerzlicher ist: Koustas’ Werkzeug zu sein oder anderen Politikerkollegen zu gehorchen? Gut möglich, daß diese Kollegen die Beliebtheitswerte der beiden noch weiter stärken werden, um aus Wasserpistolenträgern Panzergrenadiere zu machen. Gikas jedenfalls vertuscht den Fall und ist auf dem besten Weg, Polizeipräsident zu werden. Was mich betrifft: Ich bin, wie gesagt, die Kalia unter den Polizeibeamten und muß, ganz so wie sie, mit meinem Schicksal allein fertig werden.
»Willst du dich nicht anziehen? Es ist gleich elf.« Adriani steht in der Schlafzimmertür. Sie hat schon am frühen Morgen ihr bestes Kleid angelegt.
»Um wieviel Uhr kommt er denn?«
»Wir haben keine bestimmte Uhrzeit verabredet, aber willst du ihn im Pyjama empfangen?«
Adriani entgeht nicht, wie lustlos ich aus dem Bett steige. »Was hast du?« fragt sie besorgt.
»Ach, das ist nur meine Wochenend-Faulheit.«
»Komm schon, zieh dir schnell was an, komm in die Küche und sag mir deine Meinung über den Fisch.«
»Wozu? Wenn ich dir sage, er sei nicht gut, würdest du noch mal von vorne anfangen?«
»Was dir immer einfällt!« sagt sie und geht lachend hinaus.
Ich ziehe ein sauberes Hemd, die Hose meines guten Anzugs und einen Pullover an. Ich habe nicht vor, zu Ousounidis’ Ehren eine Krawatte anzulegen. Wenn mir das Disziplinargericht nahelegen wird, in Frührente zu gehen, damit meine Personalakte sauber bleibt, werde ich ständig ohne Anzug und Krawatte, die ich sowieso hasse, herumlaufen können.
Ich unterziehe mich einer Schnellrasur und gehe in die Küche, wo mein Kaffee und Adriani mit der Gabel in der Hand schon auf mich warten.
»Probier mal.«
Sie hat ein bißchen zuviel Pfeffer erwischt, doch wenn ich ihr das sage, verfällt sie in Trübsinn. »Sehr lecker«, meine ich.
»Wie siehst du denn aus?«
Ich drehe mich um und erblicke Katerina. Sie ist ungeschminkt, trägt Jeans, einen Pullover und Pumps.
»Was meinst du damit?« gibt sie ihrer Mutter zurück.
»Vergibst du dir was, wenn du ein ordentliches Kleid anziehst?«
»Papa, hast du mir immer noch kein Ballkleid gekauft?« Ich muß trotz meiner schlechten Laune lachen.
»Provinzgesocks!« sagt Adriani verächtlich. »Ich wundere mich, wie sich immer wieder Männer finden, die sich in dich verlieben.«
Um Viertel nach zwölf schellt die Türklingel. Adriani packt mich an der Hand und zieht mich ins Wohnzimmer, wo der gedeckte Tisch wartet: das weiße Tischtuch, das gute Geschirr, das wir von meiner Taufpatin zu unserer Hochzeit geschenkt bekommen haben, und die guten Gläser, die wir zum halben Preis mit Hilfe von Zeitungscoupons erworben haben. Alles ist mit derartiger Symmetrie angeordnet, als hätte Adriani die Abstände mit dem Lineal nachgemessen. Nur das Besteck ist ein Serienprodukt. So viele Jahre liegt sie mir schon in den Ohren, ein schönes Eßbesteck zu kaufen, und seit genauso vielen Jahren stelle ich mich taub.
Katerina führt Ousounidis bis zur Wohnzimmertür und schickt ihn dann mit einem »Geh ruhig rein, ich muß euch ja nicht bekannt machen« ins Ungewisse, während sie selbst in die Küche geht und die mitgebrachte Torte abstellt.
Die Begrüßung hätte kurz und schmerzlos ausfallen können, wenn Adrianis überflüssige Formeln wie »na endlich« und »wie sehr wir uns freuen« nicht gewesen wären. Als hätten wir die ganze Zeit sehnsüchtig auf seinen Besuch gewartet. Als ich an der Reihe bin, ihn zu begrüßen, sind wir beide noch verkrampfter als unser Händedruck. Er erinnert sich an meinen Gesichtsausdruck im Krankenhaus
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