Nachtfalter
den zeitlichen Ablauf zu rekonstruieren. Der Mord wurde um halb drei begangen. Vielleicht brauchten sie noch zehn Minuten, um auf die Leonidou-Straße zu gelangen. Kurz vor drei kehrten sie nach vollbrachter Tat nach Hause zurück.
»Hat möglicherweise irgend jemand zwischen halb drei und drei Uhr einen Wagen beobachtet, der aus der Leonidou-Straße brauste?«
Der diensthabende Beamte schüttelt den Kopf. »Nein, Herr Kommissar. Wir haben uns umgehört, doch keiner hat etwas bemerkt. Hier wohnen lauter Arbeiter. Die gehen früh ins Bett und fangen morgens früh an. Ziehen Sie keine falschen Schlüsse daraus, daß Koustas’ Nachtlokal gut besucht ist. Seine Kundschaft stammt nicht aus dieser Gegend, die reist von woanders an.«
»Wissen Sie, ob Koustas jemals Drohungen aus dem Rotlichtmilieu oder von Schutzgelderpressern erhalten hat?«
Er bekommt kaum das Ende der Frage mit, da ein Ehepaar in sein Büro stürmt. Der Mann ist um die Fünfzig und außer sich vor Wut. Er hält ein blutbeflecktes Taschentuch; an seine Nase gepreßt, und von seinem weißen Hemd fehlen zwei mittlere Knöpfe. In seiner Begleitung befindet sich eine rundliche, aber durchaus knusprige Bezirks-Schönheit erster Güte. Sie trägt ein weißes Kleid, das ihre prallen Brüste einschnürt und dadurch um so wirkungsvoller zur Geltung bringt. Lidschatten und Kajal um ihre; Augen haben sich durch ihr heftiges Heulen verwischt und verfärben nun ihre Tränensäcke.
»Schon wieder Sie?« meint der Beamte überdrüssig, sobald er ihn erblickt.
»Ich möchte Anzeige erstatten«, schreit der Mann.
»Wen wollen Sie denn diesmal wieder anzeigen, und warum?«
»Argyris Koutsaftis.« Der Mann schreit in einem fort sie am Spieß. »Er hat meine Frau angemacht und mich dann geschlagen.«
»Wo ist das passiert?«
»Im Rembetiko.«
Da erkenne ich sie plötzlich wieder. Sie saßen an einem weiter hinten gelegenen Tisch mit einem etwas jüngeren Mann.
»Aristos, ich bitte dich«, fleht die Knusprige. »Laß doch diese ewigen Anzeigen bleiben. Man schleppt uns nur vors Bezirksgericht und macht uns zum Gespött der Leute.«
»Schnauze! Halt die Klappe, du Flittchen! Du bist an allem schuld! Hättest du nicht mit dem Hintern gewackelt, hätte sich dieser Windhund nicht so viel herausgenommen!«
Und er versetzt ihr eine schallende Ohrfeige. Bei dieser Anstrengung löst sich das Taschentuch von seiner Nase, und zwei Blutstropfen triefen auf die Milchbar der Knusprigen, die postwendend zu zetern beginnt. Ich weiß nicht, ob sie wegen der Ohrfeige oder wegen des schmutzigen Kleides aufheult. Wahrscheinlich wegen letzterem, da sie eher an Schläge als an teure Kleider gewöhnt zu sein scheint.
Der diensthabende Beamte springt auf und schubst ihn von seiner Frau fort. »Benehmen Sie sich anständig«, sagt er streng. »Hier bei uns werden Sie sich ordentlich betragen und schön brav der Reihe nach erzählen.«
»Hören Sie nicht auf ihn, Herr Kommissar.« Die Knusprige blickt beschwörend von einem zum anderen. Zuerst auf ihren Mann, dann auf den Polizeibeamten. Mich läßt sie vorerst außer acht. »Hören Sie nicht auf ihn. Der Mann ist unser Trauzeuge, er hat mit uns vor dem Traualtar gestanden!«
»Trauzeuge in der Kirche und Hausfreund im Bett!« brüllt der Mann.
»Soll ich Ihnen einen Rat geben?« sagt der Beamte gelassen. »Gehen Sie nach Hause und beruhigen Sie sich, denken Sie in aller Ruhe darüber nach, und wenn Sie morgen noch immer Anzeige erstatten wollen, stehen wir zur Verfügung.«
»Nein! Ich will ihn jetzt sofort anzeigen!«
»Na gut«, sagt der Beamte und ruft: »Karambikos!« Als der junge Revierbeamte eintritt, deutet er auf den Mann. »Nimm ihn in Gewahrsam. Und händige ihm Watte und Alkohol für seine blutende Nase aus.«
»Wie bitte?« Der Typ sieht ihn sprachlos an. »Mich wollen Sie hierbehalten?«
»Jawohl, Sie! Wegen Tätlichkeiten gegen Ihre Frau. Sie haben sie vor unseren Augen geschlagen. Bringen Sie mal eine Nacht in der Zelle zu, damit Sie einen klaren Kopf bekommen, und morgen früh erstatten wir beide Anzeige: Ich zeige Sie an und Sie Ihren Trauzeugen.«
So wie sich der Kriminalhauptwachtmeister jetzt zum Herrn der Lage aufschwingt, revidiere ich meinen ersten Eindruck, und er kommt langsam in den Genuß meiner Wertschätzung. Ganoven bekommt man leicht in den Griff, man sperrt sie ein und hat seine Ruhe. Eine respektable Leistung dagegen ist es, die braven Bürger bei der Stange zu halten.
Der aufgeplusterte
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