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Nachtfalter

Nachtfalter

Titel: Nachtfalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petros Markaris
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bin schon so weit, Vlassopoulos zu mir zu bestellen, als mir einfällt, daß ich die Zentrale meiner Krankenkasse anrufen sollte, damit mir Katerina und Adriani am Abend nicht wieder in den Ohren liegen. Ich weiß die Nummer nicht auswendig und lasse mich von der Telefonzentrale aus verbinden.
    »Welchen Facharzt benötigen Sie?« fragt die junge Frau am anderen Ende der Leitung.
    »Keine Ahnung. Ich habe Rückenschmerzen und möchte mich untersuchen lassen.«
    »Dann fangen wir am besten mit einem Rheumatologen an, und dann sehen wir weiter. Ich kann Sie frühestens in zehn Tagen, am Dienstag, dem 26. September, um 11 Uhr, vormerken.«
    Jetzt, wo ich »In Ordnung« sagen sollte, sitzt mir ein Kloß im Hals. Die junge Frau faßt mein Schweigen als Mißbilligung auf und meint zögernd: »Wenn es dringend ist, könnte ich Ihren Termin auch vorziehen und einen anderen verschieben, Herr Kommissar.«
    »Nein, nein, nicht nötig. So dringlich ist es nicht.«
    Hätte sie den Termin noch weitere zehn Tage hinausgeschoben, wäre ich ihr dankbar gewesen. Meine Gedanken weilen noch immer bei meinem Arzttermin, als Vlassopoulos eintritt.
    »Draußen wartet die Meute auf Sie«, sagt er. Er meint die Journalisten.
    »Schön, wenn du rausgehst, gib ihnen Bescheid, daß ich sie erwarte. Nimm inzwischen diese Fotos mit.« Und ich überreiche ihm die schärfsten und vorteilhaftesten Aufnahmen. »Schick sie an die Polizeiwache der Insel. Sie sollen bei den Hotels und Zimmervermietern nachfragen, ob ihn jemand wiedererkennt. Falls er in einem Hotel wohnte, wird man seine Personalien aufgenommen haben. Sie sollen ebenfalls nachforschen, ob sich im selben Zeitraum zwei Männer irgendwo eingemietet haben, höchstwahrscheinlich Griechen. Die werden sich eine Unterkunft gesucht haben, in der sie keine Namen angeben mußten. Und laß seine Fotos durch den Fahndungscomputer laufen, vielleicht taucht ein zum Verwechseln ähnliches Gesicht auf.«
    »An die tausend werden da auftauchen«, entgegnet er schicksalsergeben.
    »Besser einer unter tausend als eine Stecknadel im Heuhaufen. Und sag den Wiederkäuern, sie sollen reinkommen.«
    Ich nenne sie Wiederkäuer, weil sie hier antanzen, die vorgekaute Nahrung runterschlingen, dann zu ihren Radio- und Fernsehsendern laufen und sie wieder hochwürgen. »Hast du was über Koustas rausgekriegt?«
    »Nein, noch nicht.«
    Kaum hat Vlassopoulos mein Büro verlassen, stürmen alle, mit Sotiropoulos als Bannerträger an der Spitze, herein und bauen sich vor mir auf. Sotiropoulos ist der Dienstälteste und erhebt demzufolge Anspruch auf die Führungsrolle. Er trägt ein Hemd von Armani, Jeans der Marke Harley-Davidson und Mokassins von Timberland. Sein Haar ist kurzgeschoren, und er hat eine runde Brille mit einer dünnen Metallfassung. Er erinnert mich an die früher sehr beliebten Kapuzenmäntel, die man wenden konnte: außen Kammgarn, innen Filz. So einer ist Sotiropoulos. Von seiner Aufmachung her ähnelt er einem amerikanischen Yuppie, vom Gesichtsausdruck her einem SS-Schergen.
    »Wir haben erfahren, daß man Ihnen die Nachforschungen zum Fall Koustas übertragen hat, Kommissar«, sagt er.
    Das ist sein anderes Markenzeichen. Er hat seit geraumer Zeit die Anrede »Herr« fallenlassen und sagt einfach »Kommissar« oder noch häufiger »was gibt’s, Kommissar«, ohne Höflichkeitsfloskeln. Er glaubt, daß er die Stimme des Volkes verkörpert, und ihm kommt gar nicht in den Sinn, daß sich auch die königlichen Hochkommissare, die an den Militärgerichten der Juntazeit die Anklage vertraten, dieser legeren Redeweise bedienten.
    »Ja«, antworte ich knapp, da mir seine nächste Frage bereits klar ist.
    »Was gibt’s Neues?«
    »Nichts. Ich habe den Fall gerade mal gestern übernommen und muß mich erst einarbeiten. In zwei bis drei Tagen werde ich in der Lage sein, mehr dazu zu sagen. In der Zwischenzeit habe ich aber etwas anderes für Sie.«
    Ich greife nach den Fotografien des Unbekannten und verteile sie. Ein taktischer Schachzug ganz nach Gikas’ Art, aufwendige Dinge zu delegieren. Gikas hat Koustas auf mich abgewälzt, nun halse ich den Journalisten den Unbekannten auf. Sie blicken auf die nackte Leiche auf dem Obduktionstisch und können ihre Augen nicht mehr losreißen. Ich weiß, daß sie angebissen haben und am Abend das Gesicht des Unbekannten über den Bildschirm flimmern wird. Ich knüpfe größere Hoffnung daran, daß ihn so irgend jemand wiedererkennt, als an die ganzen übrigen

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