Nachtfalter
Mirafiori, um zur Polizeistation von Chaidari zu fahren.
9
S attelschlepper und Lastwagen rollen auf der Iera-Odos-Straße mit der Geschwindigkeit eines Trauerzugs dahin. Sie hüpfen mit blendenden Scheinwerfern an den Flickstellen des Asphalts in die Höhe und poltern dabei jedes Mal wie wahnsinnig.
Eine unglaubliche Feuchtigkeit liegt in der Luft, und die Kleider kleben mir am Körper. Scheißwetter. Beim dritten Häuserblock kann ich rechter Hand ein einzelnes erleuchtetes Gebäude erkennen. Früher waren die Möglichkeiten begrenzt: Sah man um diese Uhrzeit ein Haus, in dem noch Licht brannte, dann handelte es sich entweder um ein Bordell oder um eine Polizeidienststelle. Heutzutage, wo an jeder Straßenecke Bars und Amüsierschuppen aus dem Boden schießen, liegt das nicht mehr so auf der Hand. Ich fahre näher heran und sehe, daß ich Glück habe: Es ist die Polizeistation von Chaidari.
»Was wünschen Sie?« fragt mich der Wächter am Eingang.
»Kommissar Charitos. Ich möchte den diensthabenden Beamten wegen eines gestohlenen Motorrads sprechen.«
Er mustert mich mißtrauisch. Er begreift nicht, wieso sich ein Kommissar aus dem Distrikt Attika mitten in der Nacht ausgerechnet nach Chaidari begibt, um Informationen über ein gestohlenes Motorrad einzuholen, statt bis zum nächsten Morgen zu warten oder, noch besser, diese Auskünfte über den Dienstweg zu erfragen, ohne sich auch nur einen Zentimeter von seinem Bürostuhl zu bewegen.
»In der ersten Etage die erste Tür links, Herr Kommissar«, rattert er dann plötzlich herunter, wie um die Zeit wiedergutzumachen, die er damit vergeudet hat, mich anzustarren.
Der Fahrstuhl ist besetzt. Ich möchte schon die Treppe nehmen, als sich schlagartig die Müdigkeit in meinen Beinen bemerkbar macht, und ich beschließe zu warten. Er ist zuverlässiger als unser Fahrstuhl im Präsidium, der einen manchmal bis zu einer Viertelstunde warten läßt, und binnen einer Minute bin ich oben.
Der diensthabende Beamte ist ein etwa fünfunddreißigjähriger Kriminalhauptwachtmeister von der Sorte, die meint, daß alle es darauf angelegt haben, sie grundlos bis aufs Blut zu quälen und vor unlösbare Aufgaben zu stellen. Er plaudert mit einem jungen Revierbeamten, der vor seinem Schreibtisch steht. »Warten Sie mal schön draußen, ich rufe Sie gleich«, sagt er, als er mich eintreten sieht.
»Kommissar Charitos von der Mordkommission.«
Er schnellt in die Höhe, während der Revierbeamte rasch am Schreibtisch vorbei hinausschlüpft, als hätte ich ihm mit einer Ohrfeige gedroht.
»Kriminalhauptwachtmeister Kardassis. Entschuldigen Sie, Herr Kommissar, aber heute geht es rund hier.«
»Das sehe ich«, meine ich verständnisvoll, während ich einen Blick auf seinen leeren Schreibtisch werfe. »Ich hätte gerne ein paar Angaben zu dem Motorrad, das bei dem Mord an Konstantinos Koustas benutzt wurde.«
»Aber selbstverständlich«, entgegnet er bereitwillig und geht zu einem Büroschrank, in dem er die Aktenordner aufbewahrt. »Da hätten wir’s. Eine Yamaha, 200 Kubik, mit dem Kennzeichen AZO -526. Sie war zwei Tage zuvor –«
»Das weiß ich alles«, unterbreche ich ihn. »Ich habe es im Polizeibericht nachgelesen. Ich bin nicht mitten in der Nacht hierhergekommen, um dasselbe noch einmal zu hören. Ich möchte wissen, wie Sie die Maschine gefunden haben.«
»Sie ist der Besatzung eines Streifenwagens aufgefallen, als sie am nächsten Tag verlassen in der Leonidou-Straße, vor dem Finanzamt von Chaidari, stand. Zunächst haben die Kollegen nicht darauf geachtet. Erst als sie am Abend immer noch dastand. Das hat dann doch ihre Aufmerksamkeit erregt, und sie haben die Daten überprüft. So wurde sie gefunden.«
»Und wie wurde festgestellt, daß es sich um die beim Koustas-Mord benutzte Maschine handelte?«
»Der Türsteher des Nachtlokals hat sie wiedererkannt.«
Solange er sich nicht vertan und sie nicht mit irgendeiner anderen verwechselt hat. Sicher, das Motorrad stand zwei bis drei Minuten lang vor dem Schuppen. Da hatte der Türsteher reichlich Gelegenheit, es eingehend zu betrachten, und tippte wohl kaum daneben. Jedenfalls mußte sie vor dem Finanzamt eine dritte Person in einem Wagen erwartet haben, da sie das Motorrad an dieser Stelle stehengelassen hatten. Wie hätten sie sonst um diese Uhrzeit von dort wegkommen sollen? Ein Mord mit drei Tatbeteiligten ist eine professionelle Auftragsarbeit, ob ich es nun glauben will oder nicht. Ich bemühe mich,
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