Nachtfalter
Elena in unser Leben trat, richtete er seinen ganzen Haß auf sie, als sei sie an allem schuld.« Sie pausiert, als wolle sie über das eben Gesagte nachdenken, und fährt mit ihrem typischen Lächeln fort: »Jetzt tue ich ihm möglicherweise unrecht, denn für mich war alles leichter. Sehen Sie, ich habe mich von meiner Familie losgelöst, ich gehe nur selten nach Hause. Genauer gesagt, nur zu Weihnachten und zum Namenstag von beiden, und das auch nur Elena zuliebe.«
»Und warum so selten? Hatten Sie Schwierigkeiten mit Ihrem Vater?« Wenn sie schon zugibt, daß sie nur wegen der Kousta zu ihrem Vater ging, muß es sich wohl um etwas Derartiges handeln.
»Nein. Bloß, ich bin ein selbständiger Mensch und komme gern alleine zurecht. Nachdem ich mein Studium beendet hatte und nach Griechenland zurückgekehrt war, bat ich meinen Vater, mir eine seiner Wohnungen in der Fokylidou-Straße im Stadtteil Kolonaki zur Verfügung zu stellen. Das war die erste Wohnung, die er je gekauft hatte. Seit damals wohne ich dort. Danach fing ich hier zu arbeiten an und bin seitdem von meinem Vater unabhängig.«
»Was genau arbeiten Sie, Frau Kousta?«
»Ich habe in England einen Studiengang für Marktforschung absolviert, beschäftige mich hier jedoch mit Umfragen zu Einschaltquoten beim Fernsehen und Meinungsforschung. Tja, und jetzt führen wir gerade eine Umfrage über den Beliebtheitsgrad unserer Politiker durch. Wollen Sie wissen, wer der prominenteste Politiker ist?«
Nicht, daß es mich sonderlich interessieren würde, doch die Kousta ist sehr entgegenkommend, und ich möchte ihr die Freude nicht verderben. Ich beuge mich zum Computerbildschirm hinunter. Ich durchblicke den Zahlensalat zwar nicht, doch das ist auch nicht notwendig, denn da steht dick und fett der Name eines Exministers und nunmehrigen Parlamentsabgeordneten der Opposition. In einer Tabelle neben dem Namen steht der Prozentsatz seines Beliebtheitsgrades: 62%.
»Der ist bei 62% der Bevölkerung beliebt?« frage ich ungläubig.
»Ja, bei einem größeren Teil der Bevölkerung als der Vorsitzende seiner Partei. 62% der Befragten würden ihn gerne als Premierminister sehen.«
Er ist einer jener Politiker, die jeden Tag in der Glotze oder vor einem Mikrofon auftauchen und sich über Hinz und Kunz, Gott und die Welt verbreiten. Normalerweise legt er sich dabei mit seinem Parteivorsitzenden an und »profiliert sich«, wie man so schön sagt. Jedes Mal, wenn ich ihn reden höre, raufe ich mir die Haare wegen seiner stumpfsinnigen Äußerungen. Früher führten alle Wege nach Rom, heute führen alle Wege auf die Mattscheibe. Und mit einer gewissen Portion Geschwätzigkeit bringt man es schließlich zum Premierminister. Dieses Metier beherrscht er nämlich hervorragend.
»Besten Dank, Frau Kousta. Wenn ich noch etwas von Ihnen benötigen sollte, melde ich mich«, sage ich und gehe zur Tür, damit mir nicht noch ein derber Kommentar herausrutscht. Er ist ein von der Öffentlichkeit gewählter Funktionär, und wenn der Teufel es will und er morgen Innenminister wird, dann finde ich mich, schneller als ich bis drei zählen kann, in der finstersten Provinz im Exil wieder.
Als ich höre, wie sie mir »Auf Wiedersehen« sagt, fällt mir jedoch noch etwas ein, und ich wende mich noch einmal um. »Gestern abend habe ich Ihren Bruder gesehen«, sage ich. »Er war im Rembetiko und sagte zu Chortiatis, er hätte vor, die Geschäftsführung des Nachtlokals zu übernehmen. Jetzt, da sein Vater tot ist.«
Sie fährt mit der Hand durch ihr kurzgeschnittenes schwarzes Haar und seufzt. »Das war immer schon Makis’ Traum«, sagt sie. »Jahrelang hat er immer wieder darauf bestanden. Vielleicht hätte Makis, wenn mein Vater zugestimmt hätte, einen anderen Weg eingeschlagen. Makis lag ihm ständig damit in den Ohren, doch er wollte nichts davon hören. Jetzt, wo er tot ist, haben Makis’ Hoffnungen neue Nahrung bekommen. Aber er hat keine Chance.«
»Weshalb?«
»Weil wir eine Erbengemeinschaft bilden und weder Elena noch ich zulassen werden, daß Makis, so wie er jetzt beisammen ist, die Geschäftsführung des Nachtklubs übernimmt. Das wäre sein Untergang und auch der Ruin des Lokals.«
»Möglicherweise hat Ihr Vater ein Testament hinterlassen.«
Sie bricht in Lachen aus. »Mein Vater? Ausgeschlossen!« Sie sieht meinen befremdeten Blick und erläutert eilig: »Mein Vater verabscheute alles Schriftliche, Herr Kommissar. Er ekelte sich vor schriftlich aufgesetzten
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