Nachtfalter
Früher dienten solche Kabuffs einem Portier als Unterschlupf. Heutzutage bleiben sie Flüchtlingsfamilien und den Führungsetagen privater Firmen vorbehalten.
Der Pfad zwischen den Kämmerchen mündet in einen Korridor, von dem rechts, links und ganz hinten Türen abgehen. Das Büro der jungen Kousta ist das erste Zimmer rechts. Die Tür steht offen, und ich erblicke eine junge Frau um die Fünfundzwanzig mit kurzgeschnittenem dunklen Haar. Sie ist ganz in Schwarz und ungeschminkt. Ich klopfe an die offene Tür, und sie wendet sich um.
»Kommissar Charitos. Und das ist –«, sage ich.
»Aber ja, ich bin im Bilde. Kommen Sie herein, Herr Kommissar.«
Ihr Büro ist zwar nicht sehr geräumig, doch auch nicht gerade ein Kabuff. An den beiden Längsseiten hängen Pinwände mit Notizzetteln und Übersichtsgraphiken.
»Sie kommen spät«, meint sie, während sie auf die beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch deutet. »Ich hatte Sie früher erwartet.« Auf ihrem Gesicht liegt ein unschuldiges, fast kindliches Lächeln, das sie noch jünger wirken läßt.
»Es handelt sich um eine reine Routinebefragung, Frau Kousta. Die konnte etwas warten.«
»Da haben Sie nicht unrecht. Was glauben Sie bloß von mir zu erfahren, ich weiß ja überhaupt nichts. Den Mord an meinem Vater habe ich erst am nächsten Morgen aus dem Radio erfahren.« Sie sagt es mit demselben kindlichen Lächeln, doch sie beeilt sich hinzuzufügen: »Das meine ich nicht böse. In ihrer Verwirrung hat Elena nicht daran gedacht, mich gleich anzurufen. Oder vielleicht wollte sie mich auch nicht mitten in der Nacht aufschrecken und wartete deshalb bis zum nächsten Morgen.«
»Waren Sie denn den ganzen Abend über zu Hause? Vielleicht hat Sie sie angerufen, aber nicht angetroffen.«
»Ich war mit meinem Bruder zu Hause.«
Ihre Antwort erstaunt mich. »Mit Ihrem Bruder? Wohnen Sie zusammen?«
»Nein, aber Makis hat gewisse Probleme und –«
»Ich kenne sein Problem. Ihre …« Ich führe mir die ältere Kousta vor Augen, als sie noch Fragaki hieß, mit ihrem offenherzigen Ausschnitt und dem um ihre Beine spielenden Theatervorhang, und bringe die Bezeichnung »Ihre Stiefmutter« nicht über die Lippen. »Äh …, Frau Kousta hat es mir erzählt.«
Ihr Lächeln kehrt wieder. »Damit helfen Sie mir aus der Verlegenheit, Herr Kommissar. Sicher, Makis geht es jetzt gut, aber manchmal verliert er den Mut und ist knapp davor, rückfällig zu werden. In solchen Situationen braucht er Halt. Am Abend des Mordes war es wieder mal soweit. Er war die ganze Nacht bei mir, und ich bin nicht von seiner Seite gewichen.«
Schon möglich, daß er am Abend des Mordes noch einmal die Kurve gekriegt hatte, sage ich zu mir selbst, doch gestern bestimmt nicht. Er hatte sich seinen Schuß gesetzt, da war ich mir sicher.
»Ist es immer so? Kommt er zu Ihnen, wenn er jemanden braucht?«
»Mein Vater hatte altmodische Ansichten. Er glaubte, daß eine harte Haltung und unnachsichtige Strenge alle Schwächen überwinden helfen. Dreimal ist Makis rückfällig geworden, doch mein Vater beharrte auf derselben Verhaltensweise.« Sie hält kurz inne und fügt gepreßt hinzu: »Und mit Elena versteht er sich überhaupt nicht.«
Ich spiele den Ahnungslosen, als wüßte ich von nichts. »Aber wieso denn? Gibt es einen bestimmten Grund, warum sie nicht gut miteinander auskommen sollten?«
»Für Makis war das Verhalten seiner Mutter traumatisch.«
»Was denn für ein Verhalten?«
»Ja, wissen Sie das denn nicht?« Sie scheint sich zu wundern. »Unsere Mutter ist einfach bei Nacht und Nebel abgehauen.«
Nein, davon hatte ich nichts gewußt. Niemand hatte je darüber gesprochen, deshalb war ich davon ausgegangen, daß ihre Mutter sich hatte scheiden lassen oder gestorben war – irgend etwas in der Art jedenfalls.
Anscheinend hat Vlassopoulos dasselbe gedacht, denn er fragt überrascht: »Sie ist bei Nacht und Nebel abgehauen?«
»Ja. Sie ist mit einem Schlagersänger über alle Berge. Soviel ich weiß, lebt sie immer noch mit ihm zusammen. Er singt jetzt nicht mehr selbst, sondern führt eine Plattenfirma, wenn ich mich nicht irre. Nachdem sie unseren Vater verlassen hatte, äußerte sie nie den Wunsch, uns wiederzusehen. Sie hat uns einfach aus ihrem Leben getilgt.« All das erzählt sie leidenschaftslos, ohne Bitterkeit, als spreche sie von der Lebensgeschichte irgendeiner anderen Person. »Makis hat das nie verkraftet. Er war damals vierzehn Jahre alt und ich zwölf. Und als
Weitere Kostenlose Bücher