Nachtfalter
Strandes, als wolle er die touristische Erschließung der Insel mit Hilfe dieser makabren Sehenswürdigkeit ankurbeln.
Ich will gerade ausschalten, als Niki Koustas Meinungsumfrage auf dem Bildschirm erscheint. Am Morgen hatte ich nur die Spitze des Eisberges zu Gesicht bekommen, nun sehe ich den ganzen Schlamassel: welche Partei in der Wählergunst vorn liegt, wie viele Bürger mit der Regierungsarbeit zufrieden sind und wie viele die Regierung am liebsten auf den Müll werfen würden, wie hoch der Beliebtheitsgrad des Premierministers ist und wie hoch der des Vorsitzenden der größten Oppositionspartei, und so weiter und so fort. Ein Haufen Zahlen, farbige Darstellungen, Graphiken mit vergleichenden Tabellen. Während sich der Premierminister als der beliebteste Politiker seiner Partei erweist, kommt der Vorsitzende der größten Oppositionspartei gerade mal hechelnd als zweiter ins Ziel, hinter dem Exminister mit seinen 62%. Der Nachrichtenmoderator und der Kommentator des Umfrageergebnisses bemühen sich redlich, das Phänomen zu deuten.
»Ich bin soweit«, höre ich Adrianis Stimme hinter mir.
Sie hat das Kleid angezogen, das wir im letzten Jahr im Schlußverkauf zu ihrem Geburtstag erstanden haben. Sie hat ein Perlenkollier – falsch, aber ansehnlich – angelegt und dazu eine braune Tasche und braune Schuhe. Ich wundere mich, wie sie es fertigbringt, ihren guten und bescheidenen Geschmack zu wahren, wo sie doch tagtäglich in den Fernsehserien wie Konfektschachteln aufgedonnerte Weibsbilder vorgesetzt bekommt.
»Gehen wir«, sage ich und erhebe mich.
»Was denn? So willst du ausgehen?«
»Warum denn nicht? Was paßt dir an meinem Aufzug nicht?«
»Ich bitte dich«, fleht sie. »Du kannst doch nicht mit deinem Alltagsanzug dorthin gehen!«
Ich habe noch einen zweiten Sommeranzug, den ich zu besonderen Gelegenheiten trage, doch er ist hell, und ich mache mir leicht Flecken drauf. Ich öffne die Schranktür und sehe ihn in einem Plastiküberwurf auf einem Drahtbügel hängen, so wie wir ihn aus der Reinigung geholt haben. Ich schlüpfe hinein und binde auch die dazu passende Krawatte um, die immer dieselbe ist, da ich nur eine einzige helle Krawatte habe.
»Jetzt siehst du schon ganz anders aus«, meint sie bei meinem Anblick zufrieden und streicht den Anzug an mir glatt, bevor sie zur Haustür stolziert.
13
O b Canantré oder Canard Doré, jedenfalls ist das Restaurant von völlig anderem Zuschnitt als Koustas’ sonstige Lokale. Es ist in einem neoklassizistischen Gebäude vom Ende des vorigen Jahrhunderts untergebracht, einem jener Bauwerke, die von Politikern, reichen Kaufleuten und Ärzten als repräsentatives Sommerhaus im Stadtteil Kifissia errichtet worden sind. Davor befindet sich ein großer, gepflegter Garten mit kleinen pilzförmigen Lampen. Die Fassade wird durch in die Blumenbeete versenkte Scheinwerfer angestrahlt, und über dem schmiedeeisernen Tor zum Garten ist ein Namenszug in Form einer Ente angebracht – nicht in Leuchtschrift, sondern dezent aufgemalt: Le Canard Doré. Das Wetter ist schwül, und die Gäste speisen im Garten, rund um die leuchtenden Pilzköpfe.
Ich schäme mich, den Mirafiori zwischen den dicken Schlitten wie Mercedes, BMW und Audi stehenzulassen. Ich parke ihn weiter drüben im Dunkeln, unter den Kiefern.
Bevor wir in das Restaurant treten, hält Adriani kurz inne und läßt ihrer Bewunderung freien Lauf. »Sehr glamorous «, gibt sie hingerissen von sich. Als sie dieses Wort zum ersten Mal fallenließ, wußte ich nicht, was es bedeutete, und schlug gleich im Oxford English-Greek Learner’s Dictionary, meinem einzigen Englischwörterbuch, nach. Jetzt habe ich es intus. Es bedeutet: blendend, betörend, fast mythisch.
Wir durchschreiten die offene Gartentür und betreten das Speiselokal Arm in Arm. Der Oberkellner, in cremefarbenem Sakko, schwarzer Hose und Fliege, eilt auf uns zu.
»Guten Abend«, sagt er überaus zuvorkommend. »Haben Sie reserviert?«
»Nein.«
»Dann, fürchte ich, muß ich Sie enttäuschen.« Seine Miene ist todtraurig, als stünde er vor dem Selbstmord.
Ich würde ihm am liebsten sagen, wer ich bin. Doch das ist gar nicht nötig.
»Lassen Sie nur, Michel. Das sind Bekannte von mir«, höre ich eine Frauenstimme sagen.
Ich drehe mich um und sehe Elena Kousta auf uns zukommen. Sie hat ihr Haar hochgesteckt und trägt ein schlichtes weißes Kleid, das seine Wirkung nicht verfehlt. Nicht, daß sie darin wesentlich jünger wirkt.
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