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Nachtfalter

Nachtfalter

Titel: Nachtfalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petros Markaris
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Infusionsflasche über dem Kopf im Rollstuhl zu den Labortests gekarrt, und meine Tochter soll vor meinem Krankenzimmer mit dem Arzt herumgeschäkert und Süßholz geraspelt haben? Der Arzt ist ein gutaussehender Mann, ohne Frage, doch ich kenne Katerina zu gut, sie würde so etwas nie tun.
    »Bist du sicher?« frage ich und wünsche mir, daß er mir noch irgendein Hintertürchen offenläßt.
    »Außer, sie lügt«, entgegnet er mit einem bitteren Lächeln. »Sie hat mir gesagt, daß sie sich total in den Arzt ihres Vaters verliebt hat und nicht mehr mit mir Zusammensein kann.«
    Nun ist auch der letzte Zweifel ausgeräumt. Denn wenn sie sich schon vor ihrer Reise nach Athen von Panos trennen wollte, hätte sie damit herausrücken können, ohne sich auf ihre glühende Liebe zu Ousounidis zu berufen.
    »Und all die Tage hier in Athen hast du nicht versucht, sie zu sehen? Hast sie nicht einmal angerufen?«
    »Ich rufe sie jeden Tag an, doch immer ist ihre Mutter dran und sagt, sie sei nicht da.«
    »Morgens arbeitet sie immer in der Bibliothek. Sie stellt die Literaturliste für ihre Doktorarbeit zusammen.« Obwohl ich innerlich vor Wut koche, versuche ich, ihr Verhalten zu rechtfertigen.
    »Ich rufe sie zu jeder Tageszeit an – morgens, mittags, nachmittags, abends … Immer geht ihre Mutter ran, und die Auskunft ist immer dieselbe: ›Sie ist gerade nicht da, Panos.‹«
    Jetzt erst dämmert es mir, daß Adriani die ganze Zeit mit von der Partie war. Sie schmiedeten ihre Ränke an meinem Schmerzensbett und ließen mich in finsterster Unwissenheit. Bislang war ich mir sicher, daß sich Katerina mit mir besser verstand als mit Adriani. Zwar liebte sie ihre Mutter, doch nur mir gegenüber öffnete sie sich und brachte jedes Problem zur Sprache – so glaubte ich. Und jetzt zwingt mich Panos dazu, meine Illusionen über Bord zu werfen. Offensichtlich hat sie ihre Mutter zu ihrer intimsten Beraterin ernannt, während ich in die Frührente abgeschoben wurde. Deswegen ist sie also in Athen geblieben, denke ich und fühle, wie sich ein Kloß in meinem Hals festsetzt. Nicht wegen der Bibliographie und auch nicht wegen mir, zumal ich ja auch nicht mehr krank bin, sondern nur, um in der Nähe ihres Herzchirurgen zu bleiben.
    Ich sehe, wie Panos sich nach vorn beugt und seine Hängebacken an mein Gesicht drängt. Ich denke, jetzt reiben wir auch gleich die Nasen aneinander und bieten Anlaß zu Mißverständnissen.
    »Ich liebe Ihre Tochter, Herr Charitos«, flüstert er. »Wir sind vier Jahre zusammen. Ich liebe sie und möchte sie nicht verlieren.«
    Und da fängt er zu heulen an. Ein ausgewachsener Kerl, mit kurzgeschorenem Haar, der aussieht wie Rambo und der ein T-Shirt trägt, auf dem hellraiser steht, plärrt wie ein Kleinkind! Ich konnte den akademischen Gemüsehändler nie ausstehen, doch das Verhalten meiner Tochter verletzt auch meine Mannesehre, und ich empfinde gegen meinen Willen Solidarität mit ihm.
    »Was soll ich dazu bloß sagen, Mensch, Panos?« sage ich, völlig von den Socken. »Was soll ich dazu bloß sagen?«
    »Am besten gar nichts«, entgegnet er. »Sie haben sich wenigstens mit mir hingesetzt und mich angehört.«
    Er steht auf und geht, ohne sich zu verabschieden, was ich ihm in seinem Zustand nicht nachtrage. Ich bleibe allein zurück und blicke auf die vor mir stehende Eiscreme, vor der mir ekelt. Plötzlich kommt mir der langhaarige Hüne in den Sinn, der kürzlich losflennte, als ihn seine Freundin ohrfeigte. Damals hatte ich mich geirrt. Es weinen nicht nur die Männer, die ihre Haare schulterlang wachsen lassen, sondern auch die mit Bürstenschnitt. Und sie weinen wie die Frauen. Die Kleider sind unisex, die Uhren zeigen überall dieselbe Uhrzeit, und die Ohrfeigen werden in beide Richtungen ausgeteilt. Wie soll man jetzt noch Lämmer und Zicklein am Fleischerhaken auseinanderhalten können, wenn ihnen das Fell abgezogen wurde?

26
    G uten Abend.«
    Sie sitzt wie versteinert in ihrem Fernsehsessel und hält den Oberkörper vornübergebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Füße an den Knöcheln aneinandergepreßt. Ihre Haltung erinnert mich an Fräulein Chrysanthi, unsere Religionslehrerin im Gymnasium, als sie uns das Glaubensbekenntnis auswendig lernen ließ und jedes Mal, wenn wir einen Fehler machten, mit der scharfen Kante ihres Lineals unsere Handrücken traktierte. Nur, daß Fräulein Chrysanthi ein Gebetbuch in ihren Händen hielt, während Adriani die Fernbedienung

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