Nachtfalter
und als wir in die Nähe der Elaidos-Straße kommen, öffnet der Himmel seine Schleusen und übergießt uns mit einem kräftigen Regen. Ich erinnere mich, wie ich auf der Vouliagmenis-Straße bis auf die Haut naß wurde, und Panik erfaßt mich. Ich überlege, was ich tun würde, wenn wir jetzt mit meinem zunehmenden Herzklopfen hier festsäßen. Ich sehe mich bereits im Notarztwagen liegen und mit Blaulicht ins Krankenhaus rasen. Ein Stück weiter drüben erkenne ich durch den Regen das Schild einer Apotheke.
»Jorgos, tu mir bitte einen Gefallen. Spring mal schnell rüber in die Apotheke und hol mir eine Packung Interal zu 40 mg.« Ich frage mich, wo er mich jetzt einordnet: bei den Tattergreisen oder den fiesen Vorgesetzten, doch ich bringe es einfach nicht mehr fertig, den harten Mann zu spielen.
Er zählt mich einfach zu den Ausnahmen, die die Regel bestätigen, und sein Blick ruht besorgt auf mir. »Das Herz, Herr Kommissar?«
»Nein, ich sollte nur jetzt meine Dosis einnehmen und habe die Tabletten liegenlassen«, beschwichtige ich ihn. »Ein Stück weiter unten gibt es einen Kiosk. Bring mir eine Flasche Wasser mit.«
Er nimmt das Geld und springt aus dem Wagen. Ich sehe, wie er mit zwei Riesensätzen in der Apotheke verschwindet, um mit zwei weiteren Riesensätzen zum Kiosk weiterzueilen. Da packt mich ein seltsamer, unverständlicher Neid, obwohl ich noch nie ein Mensch war, der sich gerne die Hacken abläuft.
»Tut mir leid, Jorgos«, sage ich zu ihm, als er zurückkehrt.
»Keine Ursache, Herr Kommissar.«
Anstelle der halben schlucke ich für alle Fälle eine ganze Tablette. Ousounidis hatte mir gesagt, das Medikament wirke erst nach ungefähr einer Stunde. Ich beiße die Zähne zusammen und warte. Dermitzakis ist vom Regen durchnäßt, und ich bin vor Angst vollkommen durchgeschwitzt. Glücklicherweise ist der Regen nach zehn Minuten vorüber, nach einer weiteren halben Stunde sind wir in Piräus angelangt. Von der Akti Kondyli fahren wir die Ajiou-Dimitriou-Straße hoch und kommen irgendwo in der Mitte der Rodopis-Straße wieder raus. Als wir links in Richtung Keratsini einbiegen, hat sich mein Herzklopfen etwas beruhigt.
Das Wohnhaus, in dem Obique lebt, ist ein vierstöckiges, in Windeseile hochgezogenes Bauwerk, das beim erstbesten Beben der Stärke fünf mit Mann und Maus in sich zusammenstürzen würde, wobei nicht mal der Türrahmen stehenbliebe, unter dem Adriani Zuflucht finden könnte. Es gibt zwölf Klingelschilder, von denen neun griechische Namen anführen und drei namenlos sind. Wir wollen gerade auf gut Glück die namenlosen Klingeln durchprobieren, als ein junger Mann durch die Eingangstür tritt. Wir fragen ihn, wo der Nigerianer wohnt, und er deutet zum Kellergeschoß.
»Dort gibt es nur eine einzige Tür, Sie können sie nicht verfehlen«, sagt er.
Die Schwarze, die uns die Tür öffnet, verbarrikadiert mit ihren ausladenden Formen den ganzen Eingang. Sie trägt ein schreiendgrelles Blümchenkleid und hat ein buntscheckiges Tuch um ihren Kopf gewickelt. Nur das Weiße ihrer Augen ist in der Dunkelheit zu erkennen.
»Yes?« fragt sie auf englisch.
»Polizei. Ist Obique da?«
Es scheint, als sei »Polizei« das einzige ihr bekannte griechische Wort, denn sie reißt die Augen auf, und das Weiße wird noch heller, fast wie gleißendes Kykladenlicht. Unverhofft wirft sie sich zu Boden, klammert sich an meine Beine und hebt ein Gekreische an. Zunächst auf englisch, »No, no!« , und dann bricht ein Wortschwall in einer afrikanischen Sprache über mich herein.
Ich versuche, mich aus dem Schraubstock zu befreien, doch sie drückt mich so fest, daß es mir unmöglich ist, meine Füße loszubekommen. »Lassen Sie mich doch los, ich komme ja gar nicht, um ihn abzuholen!« rufe ich ihr zu, doch sie versteht kein Griechisch.
Vier kleine Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen, tauchen aus dem Inneren der Wohnung auf. Die Mädchen tragen Kleidchen aus Stoffresten, die vom Rock ihrer Mutter übriggeblieben sind, und die Jungen Jeansshorts und rote T-Shirts. Erschrocken starren sie auf ihre Mutter, die den Kopf an meine Schienbeine schlägt. Sie stürzen sich auf sie und heben im Chor ein Gebrüll an, während von drinnen eine männliche Stimme zu hören ist, die nun ebenfalls anfängt zu schreien.
Gegen zwei Dinge im Leben habe ich eine unüberwindliche Abneigung. Gegen Rassismus und gegen Schwarze. »Schaff sie mir vom Hals, schaff sie fort!« rufe ich Dermitzakis zu. Ich habe Schiß,
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