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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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ziemlich laut.
    »Gut. Und da kommt euer Vater. Wenn ich mich nicht irre, wird er bald eine Versammlung einberufen.«
    Dämmers Kolonie zählte in die Hunderte und bestand aus vier Familien, die nun seit zwanzig Jahren in dem Mammutbaum lebten. Jeder Familie stand ein Ältester vor. Das waren Sol, Barat, Nova und Ikaron, der ein Ältester und gleichzeitig Anführer der ganzen Kolonie war. Alle vier Familien hatten seit vielen Jahren untereinander geheiratet, sodass praktisch alle irgendwie miteinander verwandt waren, wenn man Lust hatte, herauszufinden wie. Dämmer hätte eher versucht, Regentropfen zu zählen.
    In der Abenddämmerung versammelten sich alle Chiropter auf den mächtigen Ästen des Baums, begierig darauf, mehr über die geflügelte Kreatur zu hören, die in die Lichtung gekracht war. Die meisten hatten den erschreckenden Absturz gesehen, alle hatten davon gehört und ein paar hatten nur mit knapper Not vermeiden können, zermalmt zu werden.
    Auf einer riesigen Ausbuchtung des Mammutbaumstamms, wo sie von allen gesehen werden konnten, hockten Ikaron und die drei Ältesten. Der Abendgesang der Vögel war bereits verklungen und das Gezirpe der Grillen erfüllte langsam auf- und abschwellend den Wald.
    Dämmer saß neben Sylph und seiner Mutter und wartete gespannt. Der lange Aufstieg und das Abenteuer mit dem Saurier hatten ihn erschöpft, doch nun verflog seine Müdigkeit, während er hinauf zu seinem Vater sah. Obwohl Ikaron weit entfernt saß, wirkte er größer als sonst und kräftiger. Dämmer hoffte, sein Vater würde ihn von da oben sehen können. Er hob ein Segel, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, und freute sich, als sein Vater die Geste erwiderte. Dämmer blickte sich um, ob irgendeiner der Neugeborenen diesen Austausch bemerkt hatte. Ganz eindeutig warfen ihm einige verstohlene Blicke zu und flüsterten miteinander, zweifellos kochend vor Eifersucht, dass ihr Vater nicht der Anführer war. Er bemühte sich, Jib in der Menge auszumachen, leider ohne Erfolg.
    Solch eine Versammlung hatte Dämmer noch nicht miterlebt. Sie wurden nur einberufen, wenn es einen Anlass von großer Bedeutung gab. Bisher hatte er nur kleinere Debatten um Jagdplätze oder Partnerschaften mitbekommen. Normalerweise brauchten die Chiropter keine großen Zusammenkünfte. Alles, was man wissen musste, wurde von Ast zu Ast, von Familie zu Familie und von den Eltern an die Kinder weitergegeben. Und tatsächlich gab es nicht viel zu wissen. Bis jetzt war das Leben der Kolonie sehr ereignislos verlaufen. Sie entfernten sich kaum von den großen Mammutbäumen, die die Lichtung umgaben. Sie wagten sich niemals auf den Boden, und so sahen sie praktisch nie andere Tiere außer Vögeln hoch oben in den Bäumen und am Himmel. Dämmer hatte schon viele sagen hören, ihre Welt sei vollkommen. Es war immer warm, es gab Nahrung und Wasser, gute Sitzplätze – und keine Feinde. Sie konnten in aller Sicherheit jagen und ihre Jungen aufziehen.
    Dämmer hatte das eindeutige Empfinden, dass dieser Angriff (wenn man das Ereignis überhaupt so nennen konnte) des Sauriers das wichtigste Ereignis seines Lebens war, und er war froh, dass er einen kleinen Anteil daran hatte. Aber es machte ihn auch etwas unruhig, seinen Vater so ernst und all die Hunderte von Chiroptern – sonst so laut und lebhaft – still und schweigsam zu erleben, als Ikaron nun zu sprechen anfing und berichtete, was heute passiert war.
    »Kommen da noch mehr?«, rief jemand, nachdem Ikaron fertig war.
    »Unwahrscheinlich«, erwiderte Ikaron. »Das war der Erste, den ich seit ungefähr zwanzig Jahren gesehen habe.«
    Dämmer zuckte vor Überraschung mit den Segeln. Sein Vater hatte ihm gegenüber niemals erwähnt, jemals einen Saurier gesehen zu haben. Es hieß, sie seien schon lange verschwunden.
    »Wenn es diesen einen gibt, woher wissen wir, dass da nicht noch mehr sind?«, fragte ein anderer.
    »Dieser hier war alt«, antwortete Barat, »und nahezu blind. Er hatte den grauen Star.«
    Dämmer erinnerte sich an den wolkigen Mond in dem riesigen Auge.
    »Mein Sohn Dämmer hat ihn abstürzen sehen«, berichtete Ikaron der Versammlung. »Er hat gesagt, der Saurier sei seltsam geflogen. Und tatsächlich zeigen seine Flügel die Verwesungsanzeichen, an denen viele der Saurier gestorben sind.«
    Dämmer grinste Sylph an, voller Stolz, bei dem Treffen erwähnt zu werden. Einen Moment lang stellte er sich selbst da oben als Anführer vor. Warum auch nicht? Es wäre möglich.

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