Nachtflügel
seinem Ast aus konnte Dämmer hören, wie sie vor Anspannung und Enttäuschung spitze Schreie ausstieß.
Als sie schließlich aufgab und zu den unteren Ästen des Baums glitt, machte sie keine Anstalten, zu Dämmer nach oben zu klettern. Daher glitt er zu ihr hinunter.
»Warum hat das nicht geklappt?«, keuchte Sylph.
»Ich weiß nicht. Hast du so fest geschlagen, wie du konntest?«
»Ja.«
»Du kriegst den Dreh noch raus«, sagte er zuversichtlich und hoffte, seine Zweifel verbergen zu können. »Ich hab bei meinen ersten Versuchen auch nichts zustande gebracht.«
»Ich versuche es später noch mal«, sagte Sylph.
»Gut.«
»Jetzt sollten wir uns aber auf den Heimweg machen.«
Dämmer nickte. Die Möglichkeit, ein Sauriernest zu finden, schien ihm gar nicht mehr so aufregend. Das Aufregendste, was er sich vorstellen konnte, war ihm gerade passiert und die Erinnerung an seinen ersten Flug pochte durch jeden Muskel und jede Sehne seines Körpers.
Auf dem Rückweg zum Mammutbaum wusste Dämmer nicht, ob er wieder fliegen sollte. Er wollte nicht, dass Sylph dachte, er würde angeben, damit sie sich schlecht vorkam. Doch seine Schultern, Brust und Arme fühlten sich jetzt ganz anders an. Der Drang zu flattern war überwältigend, und er musste sich unbedingt vergewissern, dass er es wieder tun konnte und es nicht nur ein dummer Zufall gewesen war.
Mitten im Gleiten machte er den ersten Schlag. Nach unten mit den Segeln! Ihr Wind fuhr ihm durch das Gesicht. Er schoss vorwärts und nach oben. Dann beugte er Ellbogen und Handgelenke, faltete die Segel ein, winkelte die Vorderkante nach oben und hob sie mit aller Macht. Und dann brauchte er nach ein paar Sekunden nicht mehr zu überlegen: Der lang verleugnete Instinkt übernahm.
Er gab darauf acht, nicht zu weit vor Sylph herzufliegen, und kam im Kreis zurück, wobei er seine Wendungen übte. Die waren kompliziert, und er war es nicht gewöhnt, sich so schnell zwischen den Ästen zu bewegen. Mehrfach hätte er sich fast den Schädel eingeschlagen.
Landen war eine andere Herausforderung, weil er auch sonst immer dazu neigte, zu schnell reinzukommen. Jetzt, mit eigenem Antrieb, war er noch unkontrollierter. So ging er jetzt erst mal in den weniger schnellen Gleitflug über und landete, wie er es immer tat. Es fühlte sich nicht ganz richtig an, aber daran konnte er immer noch arbeiten.
Wie hatte er nur all die Monate mit Gleiten überstanden? Das war so wirkungslos, so begrenzt, immer zog einen die Erde nach unten. Beim Fliegen gab es alle diese Einschränkungen nicht mehr. Er konnte aufsteigen und sinken, wie er wollte. Es war, als hätte sein Körper geduldig darauf gewartet, dass er das volle Ausmaß seiner Fähigkeiten erkannte. Es war die reine Freude.
Erschöpfung war der einzige Preis, den er zahlen musste. Er konnte nur etwas länger als eine Minute fliegen, bevor er zu keuchen begann und sich ausruhen musste. Er hoffte, dass sein Durchhaltevermögen mit der Zeit besser würde.
»Ich möchte es noch einmal versuchen«, sagte Sylph. »Ich habe zugeschaut. Ich glaube, ich kann es jetzt.«
»Lass mal sehen«, meinte Dämmer. »Ich bin bestimmt nicht der Einzige, der das kann. Das ist genau wie mit der Thermik – niemand hat sich bisher die Mühe gemacht, es zu versuchen. Wenn ich das kann, können andere das auch.«
Mit einem Schrei warf sich Sylph vom Ast und fing an zu flattern. Wenn Dämmer flog, konnte er seine eigenen Flügel nur noch verschwommen sehen. Wenn er dagegen seine Schwester beobachtete, konnte er jeden einzelnen ihrer Schläge zählen. Sie war nicht annähernd schnell genug. Wieder sank sie wild zappelnd immer weiter ab. Entmutigt landete sie.
»Ich kann meine Segel einfach nicht schneller bewegen«, sagte sie niedergeschlagen.
Dämmer flatterte zu ihr hinunter, aber sie weigerte sich, ihn anzusehen. Seine Hochstimmung ließ nach.
»Erst kannst du im Dunkeln sehen«, murmelte sie. »Und nun das.«
»Tut mir leid«, sagte er.
»Ich bin deine Schwester! Ich müsste das doch genauso können!«
»Ich versteh es auch nicht.«
»Oh, ich schon«, sagte sie nach einer Weile. »Du bist anders, Dämmer. Bist du immer schon gewesen. Aber das hier, das Fliegen, lässt alles andere völlig unbedeutend erscheinen.«
»Es muss noch andere geben, die das können …«
Sylph unterbrach ihn. »Kein anderer Chiropter ist jemals geflogen, Dämmer.«
»Wir wissen nur nichts davon.«
»Es ist nicht richtig.«
Es tat ihm weh, was sie sagte, denn
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