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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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sagte Miacis leise.
    Ein schrecklicher Schauer lief Reißzahn den Rücken hinunter, erfüllte ihn zugleich mit Furcht und Erregung. Er vermisste seine Zeit als Saurierjäger. Es war noch nicht so lange her, dass es ihm möglich gewesen war, sein Verlangen nach Fleisch zu stillen und trotzdem ein Mitglied der Meute zu bleiben. Er dachte an Panthera, an ihren Duft und er spürte das wohlvertraute sehnsuchtsvolle Ziehen in seiner Brust.
    Er beschnüffelte eines der kugelförmigen Eier, dann leckte er daran. Die Schale schmeckte seltsam. Er zog sich zurück und bot Miacis an, auch daran zu lecken.
    Es geschah ohne jede Vorwarnung. Gekrümmte Klauen senkten sich in Miacis’ Rücken, sie wurde von den Beinen gerissen und hochgezerrt, während sie um sich schlug und kreischte. Voller Entsetzen blickte Reißzahn nach oben und sah, wie ein geflügeltes Wesen sie in die Luft hob. Es schwebte, wobei die riesigen Flügel fast lautlos schlugen, und dann öffnete sich der Schnabel und stieß in Miacis’ Nacken.
    Reißzahn spannte alle Muskeln an, wusste nicht, ob er angreifen oder fliehen sollte. Innerhalb von Sekunden war Miacis nicht mehr zu helfen. Ihr zerfetzter Körper hing schlaff in den Klauen der Kreatur. Reißzahn kroch zurück, ohne seine Augen von diesem Wesen abzuwenden. Es ließ Miacis auf einen Ast fallen und landete auf ihr, dann fraß es sie auf, mit Fell und allem.
    Reißzahn hatte so etwas noch nie gesehen. Die gewaltigen Schwingen hatten das Wesen riesig erscheinen lassen, doch der tatsächliche Körper war nicht viel größer als sein eigener. Zunächst nahm er an, es wäre ein Saurier, denn es schien mit gesprenkelten Schuppen bedeckt zu sein und von seinem Kopf ragten zwei Hörner hervor. Doch als das Wesen die Flügel zusammenlegte, sah er, dass es Federn hatte, und was er an der breiten Brust für Schuppen gehalten hatte, war eine dichte Schicht braunweißen Gefieders. Und von seinem Kopf standen auch keine Hörner ab, sondern zwei dichte Büschel, die sich wütend über die großen Augen senkten. Es war ein Vogel, aber von einer Art, der er noch nie begegnet war. Ein Räuber. Ein Raubvogel.
    Der Vogel beobachtete ihn, indem er den Kopf drehte, um seinen Rückzug durch die schwankenden Äste zu verfolgen. Diese übelwollenden Augen ließen Reißzahn erzittern, denn sie wirkten wie gefroren, waren aber gleichzeitig durchdringend, als wären sie sehr scharf und das auch auf weite Entfernung.
    Der Vogel hatte Miacis getötet, seine beste Jägerin. Er hatte sie auseinandergerissen, als wäre sie nichts weiter als ein Blätterhaufen. Ehe Reißzahn sich umwandte, um hinab auf den Waldboden zu springen, sah er einen zweiten Raubvogel schweigend zu dem ersten herabsinken. Der Vogel stieß zwei klagende, volltönende Rufe aus und von tiefer aus dem Wald hörte Reißzahn einige Antwortrufe.
    Reißzahn raste los.
    Als er den Mammutbaum erreichte, waren die meisten seiner Feliden schon auf der Lichtung, und Reißzahn stieß einen Alarmruf aus, um auch die übrigen herbeizurufen. Innerhalb weniger Augenblicke war seine gesamte Meute versammelt.
    »Wir müssen die Insel verlassen«, sagte er, ohne ihnen irgendeine Erklärung zu liefern.
    Er rannte los und führte seine Meute zur Küste. Immer wieder ertönten im Wald die Rufe der Raubvögel, leise, aber wohl bedacht.
    »Was sind das für Geräusche?«, fragte Tigran nervös.
    »Mörder«, antwortete Reißzahn knapp.
    Die Feliden sprangen durch das Unterholz. Es war unmöglich festzustellen, woher die Rufe kamen. Die anderen Vögel schwiegen, als ob sie Angst hätten, ihr Morgengesang würde tödliche Aufmerksamkeit auf sie lenken. Reißzahns Augen suchten wachsam die Äste über ihnen ab.
    Als sie zwischen den Bäumen hervor auf das Ufer zustürmten, stellte er erleichtert fest, dass sich das Wasser zurückgezogen hatte und die Sandbrücke wieder erschienen war. »Wir können rüber«, sagte er und ging als Erster.
    Doch er hatte kaum seine Pfoten auf den Sand gesetzt, als er Dutzende von Feliden sah, die sich vom Festland aus auf sie zubewegten. An ihrer Spitze schritt Patriofelis und an seiner Seite befand sich Panthera.
    Als Dämmer aufwachte, konnte er sich die friedliche, hoffnungsfrohe Stimmung nicht erklären, die ihn erfüllte, während er da auf der Rinde lag, noch nicht bereit, sich zu bewegen. Er war völlig damit zufrieden, einfach nur herumzuschauen und die frühmorgendlichen Düfte des Waldes einzuatmen. Selbst die Trauer um seine Mutter war im Moment

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