Nachtflug Zur Hölle
Marchetti, der neben ihm stehende Kommandant der Valley Mistress, warf seinem Kollegen White einen verwunderten Blick zu. Rock ‘n’ Roll? Die Situation hier würde voraussichtlich sehr, sehr schnell kritisch werden …
Paul White war 51 Jahre alt, aber – wie er selbst freimütig eingestand – verspielt und zu Streichen aufgelegt wie ein Dreizehnjähriger. Er wirkte nirgends so fehl am Platz wie an Bord dieses Schiffs – und könnte sich nicht besser amüsieren als mit einer Dauerkarte der Kategorie A für Disneyland. In Augenblicken wie diesem wünschte sich White nichts anderes, als die fliegerischen Fähigkeiten und kampfgestählten Nerven zu haben, die man brauchte, um knietief in Action waten zu können. Obwohl er für das Strategie Air Command und andere fliegende Verbände viele Jahre lang Kampftrainer und Simulatoren konstruiert hatte, besaß er selbst keinen Pilotenschein und war nie im Einsatz gewesen. Aber jeder, der auf der Ford Air Force Base aus einem von Whites hyperrealistischen Simulatoren kletterte, hatte erschöpft geschworen, soeben von einem Luftkampf zurückzukommen.
Auch Whites gegenwärtiger Einsatz bei der Intelligence Support Agency – einer Organisation, die dem CIA-Direktor unterstellt war –, galt offiziell nicht als Kampfeinsatz. Aber wenn etwas schiefging oder sie entdeckt wurden, konnten sie alle ebenso tot sein wie mitten im Dritten Weltkrieg.
Wie es zu einem der ungewöhnlichsten Männer der Welt paßte, stand der Luftwaffenoffizier, ein Veteran mit 29 Dienstjahren, auf der Brücke des wohl ungewöhnlichsten Schiffs der Welt. Die USS Valley Mistress war ein unter amerikanischer Flagge fahrendes Tiefseebau- und Bergungsschiff. Obwohl die Mistress eigentlich zur Flottenreserve der U.S. Navy gehörte, die sie von einer Privatfirma in Larose, Louisiana, gechartert hatte, war sie seit einigen Monaten aus diesen Verpflichtungen entlassen und befand sich aufgrund »privater Vereinbarungen« im Ostseeraum, wo sie verschiedene Arbeiten für Finnland, Schweden, Deutschland, Polen und sogar die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) – die frühere Sowjetunion – ausgeführt hatte. Mit 98 Meter Länge, 18 Meter Breite, vier Meter Tiefgang und offiziell nur 20 Mann Besatzung hatte die Mistress auf ihren weltweiten Reisen schon Hunderttausende von Seemeilen zurückgelegt, Die ursprünglich als Versorgungsschiff für Bohrinseln erbaute Mistress war durch den mittschiffs erfolgten Einbau einer großen Druckkammer, aus der ein Deep-Submergence Rescue Vehicle (DSRV) – ein Tiefseerettungsfahrzeug der U.S. Navy – starten konnte, in ein Bau-, Bergungs- und Rettungsschiff umgewandelt und als solches in die Reserveflotte eingestellt worden. Außerdem verfügte die Mistress über einen Schwergutladebaum mit 35 Tonnen Tragfähigkeit auf dem Achterdeck, offiziell fürs Aussetzen und Anbordnehmen des DSRVs, und über eine sehr große Landeplattform für Hubschrauber, die das Schiffsheck seitlich und achteraus um gut einen Meter überragte. Damit das Bergungsschiff auch in Polargebieten operieren konnte, hatte sein Rumpf massive Eisverstärkungen erhalten. Mit ihren drei Schiffsdieseln von je 14000 PS Leistung lief die 3600 BRT große Mistress flotte 20 Knoten; computergesteuerte Stabilisatoren sorgten außer bei sehr hohem Seegang für ruhige Fahrt; Schubdüsen und modernste Navigationssysteme ermöglichten ihr, bei Rettungsunternehmen präzise ihren Standort zu halten und Gegenstände in bis zu 600 Meter Wassertiefe aufzuspüren.
Paul White war nicht ihr Kommandant – in der öffentlichen Besatzungsliste stand er als Zahlmeister, der für alles vom Wassereinkauf im Hafen bis zum Ausfüllen von Zollformularen zuständig war –, aber er liebte dieses Schiff, als gehöre es ihm. Eine etwas merkwürdige Gefühlsregung für einen Mann aus Wyoming, der früher nie zur See gefahren war oder wenigstens ein Boot besessen hatte, sondern in der U.S. Air Force Karriere gemacht und sein Leben lang mechanische und elektronische Geräte für fliegende Besatzungen entwickelt hatte. Auf diesem Gebiet war er besonders begabt. Seine Spezialität waren neu zu erfindende Geräte – große und kleine.
Und die Valley Mistress war Paul Whites bisher größte und beste Eigenentwicklung.
Das Schiff und Oberst White, der seine Einsätze befehligte, waren unter dem Decknamen MADCAP MAGICIAN bekannt. Sein wahrer Zweck: unkonventionelle Kriegführung, direkte Aktion, Aufklä- rung, Terroristenbekämpfung,
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