Nachtflug Zur Hölle
Auf dem Papier mochten diese Jäger und Hubschrauber der GUS gehören, aber ihre Piloten – und die Kommandeure, von denen sie ihre Befehle erhielten –, waren Weißrussen. In den letzten Monaten hatte Weißrußland seine militärischen Aktivitäten in Litauen verstärkt, angeblich zum Schutz seiner Staatsbürger, die Litauen verlassen wollten, und seiner Einfuhren über Kaliningrad, die auf dem Weg nach Weißrußland ganz Litauen durchqueren mußten.
Aber Litauen stellte keine Bedrohung für Weißrußland dar. Möglicherweise hatten diese gesteigerten militärischen Aktivitäten nur den Zweck, eine Besetzung Litauens durch Weißrußland vorzubereiten.
Wie der Irak vor der Eroberung Kuwaits schien Weißrußland kurz davor zu stehen, aus seiner Isolation auszubrechen und ein wertvolles, weitgehend schutzloses Nachbarland zu okkupieren, Die Parallelen zwischen dem Irak und Weißrußland waren erschreckend: Weißrußland war industriell hochentwickelt, aber arm an Kapital und Rohstoffen; Weißrußland besaß starke, gutausgebildete und bewaffnete Streitkräfte, deren Offiziere seit dem Eintritt in die GUS große Einbußen an Prestige hatten hinnehmen müssen; Weißrußland besaß keinen eigenen Hafen, mußte mit den Anrainerstaaten wegen der Mitbenutzung von Ostseehäfen verhandeln und war sehr von Rußland, Polen und Litauen abhängig, was Rohstofflieferungen für seine Fabriken betraf. Es würde schwierig sein, Weißrußland daran zu hindern, seine Muskeln spielen zu lassen.
Bisher ließ sich diese Theorie noch nicht durch Tatsachen untermauern, aber White erkannte untrügliche Anzeichen. Dort draußen braute sich irgend etwas zusammen…
»Der Abholpunkt liegt hier«, fuhr der Nachrichtenoffizier fort und deutete auf ein bewaldetes Gebiet einige Kilometer nördlich von Libau, »und das hier ist der Hubschrauber, den PATRIOT beobachtet. Er überwacht seit zwei Tagen das Zielgebiet und scheint sich auch heute nacht dort draußen rumtreiben zu wollen. Das Gelände ist flach und sumpfig; Navigationsmerkmale fehlen völlig. Weiter südlich liegt ein im Sommer sehr beliebter Badestrand, der jetzt natürlich menschenleer ist. Hier im Osten haben wir Bahngleise und eine Überlandstraße – beide stark befahren und ständig kontrolliert.«
»Wirklich ein idiotischer Treffpunkt, um jemanden rauszuholen!« knurrte White. »Keine fünfzehn Kilometer von einem Militärstützpunkt entfernt. Warum lassen wir ihn nicht gleich mit ‘ner Limousine vom Stützpunkt abholen?« Aber es war ihm klar, daß ihnen jetzt keine andere Wahl mehr blieb.
Laut CIA war ihre Zielperson, ein in einer Forschungseinrichtung in der litauischen Hauptstadt Wilna stationierter Leutnant, auf Urlaub nach Schaulen heimgefahren, das auf halber Strecke zwischen Wilna und der Küste lag. Der junge litauische Heeresoffizier mit dem Decknamen RAGANU (»Hexe« auf litauisch) lieferte der CIA schon lange Informationen, aber er war kein Berufsspion. Zum Glück hatte RAGANU Heimaturlaub, als die Amerikaner zufällig entdeckten, daß er enttarnt worden war. Sein Führungsoffizier wies ihn an, nicht zu seiner Einheit zurückzukehren, sondern einen der für ihn ausgearbeiteten Fluchtpläne in die Tat umzusetzen. RAGANU sollte sich in Küstennähe aufhalten, um dort abgeholt zu werden.
RAGANU war offenbar clever genug, um sich ein bis zwei Tage versteckt zu halten, aber sobald sein Verschwinden bemerkt wurde, würde die Jagd auf ihn beginnen. Von seiner Heimatstadt Schaulen ausgehend war er bestimmt leicht aufzuspüren. Nach viertägiger unerlaubter Abwesenheit von der Truppe würde das Netz sich schon sehr eng zusammengezogen haben. Praktisch ist er schon ein toter Mann, dachte White – zumindest bei Tagesanbruch. Der Fluchtplan sah vor, daß RAGANU einen im voraus festgelegten Ort überwachen sollte. Irgendwann würde jemand aufkreuzen, um ihn rauszuholen.
Dieser »Jemand« war MADCAP MAGICIAN.
White sah auf seine Armbanduhr und fluchte nochmals – die Zeit lief ihnen davon. Die Marines würden fast zwei Stunden brauchen, um die Küste zu erreichen und an Land ins Zielgebiet vorzustoßen; dann mußten sie RAGANU aufspüren, ihn zum Abholpunkt mitnehmen und die CV-22 finden … und das alles vor Tagesanbruch. Noch dazu würde die Tarnung der Valley Mistress nicht mehr lange vorhalten: Da sie im südschwedischen Hafen Kalmar avisiert war, würde es sehr auffallen, wenn sich ihre Ankunft verzögerte. In zwölf Stunden würde der italienische Frachter Bernardo
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