Nachtflug Zur Hölle
auch zur ICBM-Abwehr, die alles im jetzigen GUS-Arsenal bei weitem übertreffen. Marschflugkörper, die denen des Westens gleichwertig sind – von denen der Gemeinschaft ganz zu schweigen.« Er machte eine Pause, um sicherzugehen, daß der alte Sack Woschtschanka ihm auch folgen konnte.
»Aber das Beste ist«, fuhr Gabowitsch fort, »daß wir einen funktionierenden schnellen Brüter haben – einen Nachbau einer hochmodernen deutschen Konstruktion –, der waffenfähiges Plutonium in kleinen Mengen liefern kann. Bei Vollastbetrieb können wir dreihundert Gefechtsköpfe pro Jahr erzeugen – mit jeweils über hundert Kilotonnen Sprengkraft.«
Der alte General machte große Augen und brachte den Mund kaum mehr zu. »Dreihundert Gefechtsköpfe?«
Gabowitsch hatte gewußt, daß das den weißrussischen General beeindrucken würde. »Diese Gefechtsköpfe sind sehr klein und wiegen ungefähr sechzehn oder siebzehn Kilogramm.« Das entsprach etwa dem Gewicht einer 10-cm-Granate – klein, handlich, leicht transportierbar und mit praktisch jedem Geschütz einsetzbar –, und er konnte sich ausrechnen, daß Woschtschanka jetzt der Speichel im Mund zusammenlief. »Elektronische Zündung, einstellbare Sprengkraft, narrensichere Konstruktion – alles neuester Stand der Technik.
Wird das Fisikus jedoch geschlossen, werden alle diese Waffen, alle diese Neuentwicklungen, verkauft oder zerstört – durch die Gemeinschaft. Sie behält das Geld oder die Waffen. Ich bezweifle, daß Weißrußland auch nur eine Kopeke davon zu sehen bekommen wird.«
Woschtschanka starrte General Gabowitsch an und nahm dabei kaum wahr, daß sich sein Gesicht langsam zu einem verschlagenen Lächeln verzog. Unausgesprochene Andeutungen hingen wie dichter Nebel in der Luft. Woschtschankas Augen glitzerten, wahrend er über die sich bietenden Möglichkeiten nachdachte: alle aufregend, alle gefährlich … »Was haben Sie vor, Genosse General? Mein Land kann es sich nicht leisten, das Fisikus-Institut zu kaufen, und ich bezweifle, daß wir die Erlaubnis bekämen, Teile Ihres Arsenals zu erwerben, Vermutlich könnten wir uns ohnehin nicht einmal einen Ihrer Wissenschaftler leisten.«
Gabowitsch, der zunächst mitfühlend genickt hatte, zuckte mit den Schultern. Er würde noch etwas Leine nachlassen, bevor er diesen Fisch aus dem Wasser hohe. »Geld ist überall knapp, General Woschtschanka. Das ist der Preis der Reformen, nicht wahr? Weißrußland gibt Milliarden Rubel für den Aufbau eigener Streitkräfte aus. Bestimmt waten Sie knietief in Vordrucken, mit denen Stiefel und Socken angefordert werden … da bleibt natürlich nichts für moderne Waffen übrig.«
Woschtschanka, der rot angelaufen war, funkelte ihn aufgebracht an. »Wie kommen Sie dazu, unsere…«
Gabowitsch hob eine Hand. „Ich wollte Sie keineswegs beleidigen, General. Schließlich weiß ich auch nicht alle Antworten, sondern habe nur … weitere Fragen. Beispielsweise habe ich mich oft gefragt, wie die Beziehungen zwischen Weißrußland, der Gemeinschaft und Litauen sich entwickeln werden, sobald alle weißrussischen Truppen Litauen verlassen haben. Der Vertrag sieht einen vollständigen Truppenabzug vor – aber was wird dann aus dem Gebiet um Kaliningrad?
Bleibt es auf Dauer von Weißrußland getrennt? Haben Ihre Truppen Zugang zu seinen Hafen und Industriezentren? Oder müssen Sie Zölle und Gebühren an Litauen zahlen, bloß um Hafenanlagen benutzen zu dürfen, die Sie erbaut und beschützt haben? Werden Fernseher oder Traktoren wegen der von Wilna festgesetzten Zoll- und Transitgebühren bald das Doppelte kosten?«
Gabowitsch hatte einen weiteren wunden Punkt berührt.
Kaliningrad.
Das zwischen Polen, Litauen und Weißrußland eingeklemmte Teilstück des ehemals deutschen Ostpreußens mit dem eisfreien Ostseehafen Kaliningrad, dem gutausgebauten Verkehrsnetz und dem hohen Lebensstandard hatte zu den bestgehüteten Geheimtips der alten Sowjetunion gehört. Mit gemäßigtem Klima, grünen Wäldern, fruchtbaren Feldern und schönen Landschaften war das Gebiet trotz hoher Umweltverschmutzung und des hektischen Lebensstils seiner reichen Bewohner bei Soldaten und Übersiedlern gleichermaßen beliebt. Obwohl es jetzt offiziell zur russischen Föderation gehörte, waren Autobahn und Bahnstrecke von Kaliningrad über Wilna nach Minsk die Hauptschlagader Weißrußlands. Blieb sie offen, war das Land auf keinem Sektor von Moskau abhängig – aber ohne Kaliningrad sank Weißrußland,
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