Nachtgesang
an sich bei Jake Cutter schon eine Seltenheit war – und antwortete: »Ach wirklich? Und warum bist du nicht zu der Kabine auf der anderen Seite des Fahrzeugs gegangen? Denn dann hättest du gar nicht in meiner Nähe sein müssen!« In einem Anfall von Spontanität lehnte er sich nach vorne, drückte seine Hakennase gegen die Glasscheibe und tat so, als versuche er, in ihrer Kabine nach unten zu schauen. Das war natürlich nicht möglich; das Glas war an den Rändern beschlagen und schimmerte, dampfte und strahlte. »Willst du mir nicht einen Gefallen tun und dich auf die Zehenspitzen stellen?«, raunte er – und war darüber so erstaunt, dass er sich versehentlich auf die Zunge biss – und umso erstaunter, als Liz für einen Augenblick so aussah, als würde sie es tatsächlich tun!
Ihr Gesichtsausdruck: nicht ganz unschuldig, neugierig und wie ein Magnet, der sie beide anzog. Sie sah wunderschön aus so: Das Haar klebte an ihren Schultern, von ihrem Make-up war nichts mehr übrig und ihre Haut glänzte von dem Öl – und doch war sie immer noch einfach umwerfend. Jake fühlte sich gleichzeitig zu ihr hingezogen und von ihr abgestoßen. Es gab etwas, das er sich selbst geschworen hatte, und er würde sich bis zum Ende daran halten, bis es vorbei war. Und abgesehen davon trat Liz nicht auf die Zehenspitzen, sondern errötete nur. Oder vielleicht war das auch nur ein Resultat des Dampfes. In dem Fall würde der seinen roten Kopf wohl auch kaschieren ... Gott sei Dank!
»Was machst du denn überhaupt hier?«, fragte sie. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber ihre Stimme klang ein klitzekleines bisschen heiser. Musste wohl an der Sprechanlage liegen. »Ich meine, du hast es klar betont, dass du nicht bei uns sein willst. Also warum bist du es dann?«
Jake starrte auf das Bedienungsfeld der Intercom. Liz’ Knopf war derjenige, der leuchtete. Niemand sonst hörte zu, also würde ihr Gespräch komplett privat bleiben. Vorausgesetzt er überwand sich dazu zu reden. Und das tat er dann ganz plötzlich. »Ich hatte keine Wahl!«, erklärte er. »Ich konnte mich entscheiden, hier zu sein oder mich einsperren zu lassen. Und ich war schon einmal im Knast. Ich kann dir sagen, dass es hier besser ist. Aber nach dieser Nacht kann ich dir versichern, dass es nicht viel besser ist ...« Er machte eine kurze Pause und zögerte. Warum sollte er sich bemühen? Warum versuchen, sich jemandem anzunähern? Er hatte vorher ein enges Verhältnis zu jemandem gehabt und sie hatte dafür bezahlen müssen. Einmal war genug.
»Sie ... sie buchteten dich wegen Mordes ein?«, fragte Liz, deren Gesicht jetzt einen sehr ernsten Ausdruck angenommen hatte. »Zumindest ist es das, was ich gehört habe.«
»Ich habe einige Leute umgebracht«, nickte Jake, »und wenn ich noch einmal die Gelegenheit dazu habe, werde ich sie ausnutzen und zwei weiteren den Garaus machen.« Das gab er in einem allzu sachlichen Tonfall zu und für einen Moment färbten sich seine braunen Augen fast schwarz; sie waren kalt und irgendwie leer vor Intensität. Liz merkte, dass Jake mit seinen Augen etwas sah, was Tausende von Kilometern weit weg war, vielleicht eine Szene aus seiner Erinnerung, seiner bis jetzt noch geheimen Vergangenheit. Oder vielleicht lag es auch einfach an der beschlagenen Scheibe.
Aber dann lächelte er, wenn auch nur ganz schwach, und kam in die Gegenwart zurück. »Da hast du es also. Das bin ich, der böse Bube. Und was hast du zu erzählen, Liz? Was macht ein nettes Mädel wie du in so einer schrägen Truppe?«
Sie fühlte sich hintergangen, weil sie wusste, dass er ihr nicht alles gesagt hatte. Nicht einmal ansatzweise. »Sag mir nur noch eins«, bat sie ihn und zitterte, da das Wasser nun deutlich kühler auf sie herabfloss und auch, weil sie seinen Blick gesehen hatte. »Über dich oder über die Männer, von denen du sagst, dass du sie umgebracht hast. Hatten sie es verdient?«
Er schaute sie an und beantwortete die Frage mit einer Gegenfrage: »Was sagst du zu den Kreaturen von heute Nacht. Hatten die es verdient?«
»Aber das waren Vampire, Monster!«
Er nickte nur und überließ es ihr, die richtigen Schlüsse zu ziehen ...
In der Zwischenzeit versprühte die Dusche Shampoo und sie wussten, dass sie es fast hinter sich hatten, zumindest diesen Teil. Als er sich einseifte, erinnerte er sie: »Ich warte.« Trotz seiner Zweifel und seiner Entschlossenheit konnte er sein Interesse nicht kaschieren.
»Hm?«, machte sie. Dann:
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