Nachtgieger
nicht so hübsch. Eine spitze, leicht schiefe Nase und ein fliehendes Kinn fielen dem Betrachter als erstes auf. Ihre Haut war blass, was von den schwarz gefärbten, dünnen, langen Haaren unvorteilhaft hervorgehoben wurde. Sie war klein und übergewichtig. Eine Speckrolle drängte sich zwischen dem Hosenbund ihrer Jeans und dem knapp sitzenden, mit Pailletten besetzten T-Shirt hervor. Ein Tattoo zierte ihren unteren Rücken.
Sie erzählte, dass sie Kati Simmerlein kennengelernt hatte, als diese im Obsthof Beer ihre Arbeit als Packerin aufnahm. Die beiden jungen Frauen hatten sich angefreundet und manchmal in ihrer Freizeit etwas zusammen unternommen, zum Beispiel einen Kinobesuch oder sie waren Pizza essen. Es tauchten immer wieder Männer auf, die sich für die hübsche Kati interessierten, leider nicht für Gretchen. Sie konnte einen gewissen Neid in ihrer Stimme nicht ganz verbergen: „Sogar unser Chef war hinter ihr her, er hat sie absolut bevorzugt behandelt, sie in sein Büro zum Kaffeetrinken eingeladen und so. Sie hätten etwas zu besprechen, dass ich nicht lache. Was gibt es denn schon mit einer Arbeiterin zu besprechen, ich bin doch nicht blöd.“ Gretchen Kaul schnaubte empört.
„Wollen Sie damit andeuten, dass Ihr Chef Oskar Beer ein Verhältnis mit Kati Simmerlein hatte?“, fragte Mandy nach.
„Der Hallodri hat mit jeder gut aussehenden Angestellten für eine Weile ein Verhältnis. Dann wird es ihm langweilig oder seine wohlhabende Frau droht mit Scheidung, und er macht Schluss. Bis wieder eine neue, attraktive Kollegin bei uns anfängt. So wird es jedenfalls bei uns im Betrieb bei der Brotzeit erzählt.“
„Sie wissen es aber nicht genau, oder?“, insistierte die Kommissarin.
Gretchen Kaul zuckte mit den Schultern. „Kati hat einmal damit geprahlt, dass sie der Chef in sein Wochenendhaus eingeladen hat, über Nacht.“
„Können Sie sich erinnern, wann das war?“
Gretchen runzelte die niedrige Stirn und dachte lange nach: „Das ist bestimmt schon einige Monate her.“
„Hat Ihre Freundin erwähnt, wo sich dieses Wochenendhaus befindet?“
Gretchen schüttelte den Kopf.
„Sind Sie mit Kati ab und zu übers Wochenende weggefahren, zu einem Kurzurlaub?“
„Nein, wir sind nie weggefahren. Ich gehe lieber in die Disco, aber ohne die Begleitung von Kati komme ich da schwer rein.“
Sie seufzte bekümmert.
„Sind Ihnen an Kati, sagen wir mal in den vergangenen Wochen, Veränderungen aufgefallen? War sie anders als sonst?“, erkundigte sich Gerd Förster.
Gretchen nickte eifrig. Der Kommissar war nett zu ihr. „Sie hat sich mehr zurückgezogen, war irgendwie verschlossener. Sie hat mir nichts mehr erzählt und wollte kaum noch mit mir ausgehen. Sie wirkte aber auch glücklicher und sprach von einer rosigen Zukunft, deutete Veränderungen in ihrem bisher so tristen Leben an. Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen. Aber ich habe ihre Spinnereien nicht ernst genommen. Alle Packerinnen beim Obsthof träumen von einem aufregenden Leben an der Seite eines reichen Mannes. Ich frage sie dann immer, wovon sie nachts träumen.“
Gretchen kicherte heftig über ihren Scherz. Die Kommissare beendeten die Befragung und verabschiedeten sich von der Zeugin.
„Cooles Tattoo übrigens“, bemerkte Gerd Förster.
Gretchen verließ strahlend das Präsidium.
Sieglinde kam in das Büro der Kommissare gestürzt und wedelte aufgeregt mit einer Telefonnotiz.
„Die Fotografie der Schlinge in der Zeitung hat bisher nichts gebracht. Man kann diese Art Drahtschlingen in jedem Haushaltswarengeschäft und in Baumärkten kaufen. Praktisch jeder Haushalt auf dem Land hat solche dünnen Drähte im Schuppen liegen. Sie sind für alles Mögliche zu gebrauchen. Ich kann mir nicht vorstellen , dass unsere braven Bauern hier alle Wilderer sind. Anders bei dem Fußkettchen: Eine Künstlerin aus Weilersbach hat soeben angerufen und mitgeteilt, dass es sich bei dem Schmuck um ein von ihr hergestelltes Unikat handelt. Jedes Kettchen gestaltet sie ein wenig anders. Alle drücken jedoch symbolisch durch die silbernen Gefängniskugeln die weltweite Unterdrückung der Frauen durch die Männer aus. Sie stellen eine Kampfansage an das herrschende Patriarchat dar, wenn ich das richtig verstanden habe.“
Mandy grinste.
„Die Künstlerin heißt Melitta Morgenrot und ist bereit, euch heute noch zu empfangen, gegen siebzehn Uhr.“
„Na dann“, meinte Gerd mit einem Blick auf seine Armbanduhr, „nichts wie
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