Nachtgieger
Gerichtsmediziner ans Werk. Es gab eine Einschussstelle seitlich rechts an der Schläfe, direkt aus nächster Nähe ins Gehirn abgefeuert. Die Waffe war anscheinend aufgesetzt worden. Es musste augenblicklich zum Exitus gekommen sein. Sie mussten überprüfen, ob der Schuss aus dem Gewehr, das auf dem Waldboden lag, abgegeben worden war. Die Größe des Einschussloches legte diese Vermutung nahe. Ein Geschoss, das in der Lage war, einen imposanten Keiler zu erlegen, war für einen Menschen genauso tödlich.
Er untersuchte den Oberkörper des Mannes, seine Arme und Hände. „Ich kann keine weiteren Verletzungen oder Abwehrspuren erkennen. Er muss bereits eine ganze Weile tot sein, zwölf bis fünfzehn Stunden, denke ich. Wenn die Spurensicherung mit den Fotos fertig ist, bringen wir ihn in mein Institut.“
„Wir müssen die Identität des Toten herausfinden“, erwiderte der Kommissar.
„Über seine Identität kann ich Ihnen Auskunft geben“, tönte von unten Walter Burkhard. Der Gerichtsmediziner hatte bei seiner ersten Untersuchung den Kopf des toten Mannes vorsichtig angehoben, und Walter hatte ihn sofort erkannt. Blass rang er um Fassung. Margit stützte ihn einfühlsam.
„Es handelt sich um einen Jagdkameraden, den Jungjäger Clemens Lämmerhirt aus Walkersbrunn, erst einundzwanzig Jahre alt. Er hat sich unserer Jägervereinigung vor einigen Monaten angeschlossen, ein lieber, schüchterner Kerl. Zu empfindsam für die Jagd, fand ich. Es wird seiner Mutter das Herz brechen. Er ist ihr einziges Kind.“
Der Jungjäger wurde nun achtsam vom Jägerstand transportiert und im Leichenwagen nach Bamberg in die Gerichtsmedizin gefahren.
Mandy war im dichten Gebüsch seitlich des Hochsitzes fündig geworden. Sie hielt einen grünen Rucksack hoch, dessen Reißverschluss offen stand. Sie nahm die Gegenstände, die sich darin befanden, nacheinander heraus und verstaute sie in Plastikbeuteln. Eine Thermoskanne, in Alufolie gewickelte belegte Brote, ein Jagdmesser, ein Fernglas und ein Handy. Das Mobiltelefon klappte sie auf und drückte ein paar Tasten.
„Clemens Lämmerhirt hat gestern Abend um 22:38 Uhr eine Gerdi angerufen und drei Minuten und acht Sekunden mit ihr gesprochen“, verkündete die Kommissarin.
Wieder konnte Walter Burkhard weiterhelfen: „Gerdi ist die Bedienung in der Wirtschaft Grüne Au in Walkersbrunn. Dort findet regelmäßig unser Jägerstammtisch statt. Clemens hatte sich in die junge Frau verguckt.“
„Mit dieser Gerdi sprechen wir morgen. Danke für Ihre Hilfe, Sie können jetzt gehen, wir wissen ja, wo wir Sie finden. Wir packen zusammen, hier gibt es für uns nichts mehr zu tun“, entschied der Kommissar. „Morgen treffen wir uns pünktlich um acht Uhr im Präsidium und besprechen das weitere Vorgehen. Mandy und ich fahren jetzt noch bei Frau Lämmerhirt vorbei.“
Die furchtbare Todesnachricht mussten sie der Mutter sofort persönlich überbringen, bevor sie aus anderer Quelle davon erfuhr. Sie musste ihren Sohn doch inzwischen vermissen.
Die Kommissarin nickte müde: „Ich bin gespannt auf deine Ergebnisse morgen früh, Carlo. Ich sehe nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat der Jungjäger Clemens Lämmerhirt Selbstmord begangen, oder wir haben es mit einem weiteren Mord zu tun. Einen Unfall schließe ich aus.“ Sie schob das Piratentuch von ihrer Stirn und schüttelte nachdenklich den Kopf.
Mandy hatte telefonisch rasch die Adresse von Agnes Lämmerhirt herausgefunden. Sie wohnte in Walkersbrunn in einer schmalen, gewundenen Seitenstraße unterhalb der malerischen Kapelle, die sich stolz über dem ländlichen fränkischen Ort erhob.
Das Haus war klein, einstöckig und unverputzt. Der gepflegte Garten, der es umgab, war nicht eingezäunt. Vor dem Haus wuchsen Dahlien und Astern in allen Farbtönen, auf der anderen Seite des gepflasterten Weges, der zur Haustür führte, befand sich eine Bauernwiese, über der eifrige Bienen summten. An der hellgelben Hauswand, die von der Nachmittagssonne beschienen wurde, stand eine königsblau lackierte Bank, die zum Ausruhen einlud. Über ihr schaukelte ein Windspiel, dessen leise, wohltönende Klänge die herbstliche Luft sanft durchdrangen. Die weißen Fensterrahmen, deren Farbe teilweise abgeblättert war, wurden von Leibungen umrahmt, die einen Ton heller als das Haus gestrichen waren. Rechts des Hauses waren Gemüsebeete mit Buschbohnen, Erbsen, Tomaten und dicken Salatköpfen akkurat angelegt. Dahinter pickten ein paar
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