Nachtgieger
erschien ihr aussichtslos, als sie auf einmal das tuckernde Geräusch eines Traktors vernahm. Nahte Rettung, sollte sie um Hilfe rufen? Oder war es der Mörder, der zu seiner Hütte wollte? Sie musste es riskieren, wollte sie nicht im Forellenwasser jämmerlich erfrieren. Der Regen hatte inzwischen zugenommen und Windböen jagten über den Teich.
„Zu Hilfe!“, brüllte die Polizistin aus Leibeskräften. „Zu Hilfe, ich bin in Seenot!“
Das dröhnende Motorengeräusch verstummte und Sieglinde schrie um ihr Leben.
Plötzlich sah sie einen Mann oben am Uferrand, der verblüfft auf sie herunterblickte. Er trug einen blauen Arbeitsoverall und derbe Schnürstiefel. Die schwarze Baseballkappe auf seinem Kopf und eine alte Regenjacke schützten ihn vor dem Regen. Der Retter war älter als Sieglinde und trug einen schwarzen Vollbart, aus dem eine Zigarette ragte.
„Ganz ruhig stehen bleiben!“, rief er Sieglinde mit beruhigender Stimme zu. „Ich komme und hole dich aus dem Wasser.“
Er hielt sich an dem biegsamen Ast einer jungen Erle fest und ließ sich vorsichtig nach unten gleiten, dem Wasser zu. Dann beugte er sich vor und streckte seine kräftige, behaarte Hand nach Sieglinde aus. Freundliche braune Augen blickten sie an. Sie ergriff dankbar die dargebotene Hand und wurde mit einem Ruck aus dem Wasser gerissen und die Böschung hochgezogen. Der fremde Mann nahm sie am Ellbogen und führte sie in Richtung der Hütte.
„Komm, Madl, du brauchst trockene Kleider und einen Schnaps zum Aufwärmen.“
Sieglinde begleitete ihn misstrauisch. Sollte sie sich losreißen und flüchten? Keine Chance. Sie fror erbärmlich und zitterte. Sie beschloss, dem Mann zu vertrauen.
Mit einem großen, alten Schlüssel, der in einem Geranientopf neben der Eingangstür versteckt war, entriegelte er das Schloss und sie betraten die Hütte. Geschickt zündete er ein paar Kerzen und eine Petroleumlampe an. Dämmriges Licht breitete sich aus. Dann entfachte er ein bereits gerichtetes Feuer im offenen Kamin und begann, in einem Bauernschrank zu wühlen. Er reichte der Polizistin eine abgewetzte Cordhose, ein weiches, kariertes Flanellhemd und dicke Wollsocken.
„Zieh dich um, ich schaue weg, keine Angst.“
Sieglinde wand sich aus ihrer tropfenden Kleidung und warf ängstliche Blicke über die Schulter. Ihr Retter jedoch machte sich am Feuer zu schaffen, goss eine Flüssigkeit in Becher und stellte diese auf einen kleinen Rost über dem flackernden Feuer.
Als sie in die Kleidung des Mannes schlüpfte, breitete sich wohlige Wärme in ihrem Körper aus.
„Setz dich ans Feuer, gleich gibt es heißen Jagertee.“
Dankbar schlürfte sie das wärmende Getränk und sah sich in der Hütte um. An der hinteren Wand stand ein schmales Feldbett mit mehreren ausgebreiteten Wolldecken und einem Kissen darauf. Daneben, unter dem Fenster, befand sich ein grob gezimmerter Holztisch mit vier Stühlen. An der gegenüberliegenden Seite lehnten ordentlich aufgereihte Angeln an der rauen Holzwand. In einem offenen Regal waren nützliche Dinge für das Leben im Wald zu sehen: Kerzen, Geschirr, Lebensmitteldosen und Getränke.
Sie befand sich in einem durchaus zweckmäßig eingerichteten, ordentlich aufgeräumten Raum mit einem fremden Mann, der hier wohl öfter übernachtete und gern Forellen angelte.
Dann schrak sie zusammen. An einem Balken über ihrem Kopf hingen mehrere Schlingen aus Draht, die ihr bekannt vorkamen. Der Mann folgte ihrem Blick.
„Das sind einfache Jägerschlingen, die besitzt hier jeder für verschiedene Zwecke, keine Bange“, beruhigte er sie. Er nahm neben ihr auf der Holzbank vor dem Feuer Platz. „Jetzt erzähl’ doch mal, wie bist du in den Teich geraten?“
Sieglinde berichtete von ihrem schrecklichen Erlebnis. Der fremde Mann konnte ein Schmunzeln nicht ganz verbergen: „Vermutlich haben die Wildschweine vor dir mehr Angst gehabt als umgekehrt. Aber du hast Glück gehabt, die Tiere waren hungrig und sind auf der Suche nach Nahrung weitergezogen.“
Fürsorglich schenkte er nach und die Polizistin taute langsam auf.
„Wenn es dir besser geht, fahre ich dich mit meinem Traktor zu deinem Auto. Dann fährst du nach Hause und legst dich in die Badewanne, damit du dir keinen Schnupfen holst. Wie heißt du überhaupt?“
„Sieglinde.“
„Ein schöner Name, Sieglinde. Meine Mutter hieß so. Darf ich dich in den nächsten Tagen anrufen und mich nach deinem Befinden erkundigen?“
Seine braunen Augen ruhten
Weitere Kostenlose Bücher