Nachtgieger
Taktik geändert und sich aufs Bitten und Flehen verlegt. Er solle sie doch einfach nach Hause gehen lassen. Daraufhin hatte er sie angebrüllt, sie solle den Mund halten, sonst würde er sie knebeln. Er hatte in seinem Rucksack gewühlt und eine Flasche Cola und eine Packung Kekse auf das Feldbett geworfen. Danach hatte er die Hütte verlassen und sie eingesperrt. Das hoffnungslose Geräusch des sich entfernenden Gefährts klang ihr noch in den Ohren.
Ansonsten herrschte absolute Stille.
Die Frau kroch mit letzter Kraft auf das Bett, rollte sich in Embryostellung zusammen und weinte sich in einen unruhigen, von Alpträumen durchzogenen Schlaf.
Dienstag, 24. September
Christa und Heini, ein Rentnerehepaar aus Fürth, gingen, einige Meter Abstand voneinander haltend, langsam durch den Wald, die Augen suchend auf den mit bräunlichen Fichtennadeln übersäten Boden gerichtet.
Sie befanden sich in einem herrlichen, großen Mischwald, zwischen den Nadelbäumen wuchsen knorrige Eichen und Ahorn. Bisher waren sie keinem einzigen weiteren Spaziergänger oder Wanderer begegnet. Allein hätte sich Christa gefürchtet, aber Heini war ja in ihrer Nähe.
Beide trugen wadenlange, hellbraune Hirschlederhosen mit verzierten Hosenträgern und leichte, bequeme Wanderschuhe. Christas Bluse war rosa-weiß und Heinis Hemd blau-weiß kariert. Ihre Strickjanker hatten sie sich um die Hüften gebunden. An diesem Morgen war es noch kühl und feucht im Wald, aber durch das Laufen war ihnen warm geworden.
Außerdem trug Heini einen Rucksack auf dem Rücken, in den Christa zeitig in der Frühe fürsorglich eine Thermoskanne mit heißem, gesüßtem Tee und einige Stücke selbstgebackenen Kuchen verstaut hatte. Später würden sie in eine gemütliche fränkische Wirtschaft einkehren und Brotzeit machen.
Pilzesammler, die es ernst meinten, mussten sich früh am Morgen auf den Weg machen. Das war die beste Zeit.
Jeder der beiden Rentner trug einen geflochtenen Korb in der Hand, in dem ein scharfes Messerchen lag. Ab und zu bückte sich einer und fügte zufrieden und stolz einen neuen Pilz zu den anderen in den Korb. Sie schnitten die gefundenen Pilze sorgfältig ab, um ihr Geflecht im Boden nicht zu zerstören. Nur kleinere, feste Waldfrüchte wählten sie aus – die schmeckten am besten.
Der riesige Wald bei Großenohe war ein Geheimtipp. Sie hatten bereits eine stattliche Ansammlung an Steinpilzen, Maronen, Birkenpilzen und Sandschiebern in ihren Körben liegen. Christa würde heute Abend gemischte saure Pilze mit reichlich kleingehackter Petersilie und Kartoffelbrei zubereiten, ein Festmahl.
Durch die andächtige Stille des Waldes, die nur von lieblichem Vogelgezwitscher und das in schneller Folge ertönende Gehämmer eines Spechtes unterbrochen wurde, rief Heini seiner Gattin zu: „Pass auf, dass du keinen Gallenröhrling erwischst, die sehen den Steinpilzen zum Verwechseln ähnlich.“
Er blickte einem Vogel hinterher, dessen Gefieder unauffällig olivgrün gefärbt war. Handelte es sich vielleicht um ein Fichtenkreuzschnabelweibchen? Heini war begeistert.
Christa schnaubte entrüstet. Als ob sie nicht genau wüsste, wie ein Steinpilz aussah! Schon als Kind hatte sie leidenschaftlich gerne Pilze gesammelt. Sie kannte sich aus. Außerdem verspürte sie aufkommenden Hunger. Den leckeren Kuchen hatten sie schon vor mindestens zwei Stunden, einträchtig auf einem umgestürzten Baumstamm sitzend, verspeist.
Kurz darauf machten sie sich überaus zufrieden mit ihrer erfolgreichen Pilzernte auf den Weg zurück nach Großenohe, wo sie ihren Wagen geparkt hatten. In einer alten umgebauten Mühle an einem glucksenden Bach gab es eine Gaststätte , die unter den Fränkisch-Schweiz-Touristen einen hervorragenden Ruf genoss und gerne als Ausflugsziel angesteuert wurde.
Sie näherten sich dem Wirtshaus mit seiner hohen, breiten Hauswand aus groben Sandsteinen, an der das Mühlrad an einer mächtigen Holzkonstruktion aufgehängt war. Sehr lange schon stand es still. Es war von graugrünen Flechten und Moos dicht überwuchert und das Holz wirkte morsch. Christa stellte sich vor, wie es sich in früheren Zeiten behäbig und kraftvoll gedreht und das Korn gemahlen hatte. Dichte Schwarzdornsträucher, die schon seit Mai verblüht waren und nach den frühen, ersten Frösten schwarzblaue, herb schmeckende Schlehen trugen, überwucherten den Boden neben der Mühle. Auf der anderen Seite lud eine von Rosskastanien umgebene Terrasse ein, in
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