Nachtgieger
Handy, das in einer Halterung am Armaturenbrett steckte. Die Polizistin meldete sich sofort.
„Sieglinde, wo treibst du dich denn herum, wir brauchen dich bei diesem Einsatz.“
„Tut mir leid, Mandy, ich mache mich sofort auf den Weg. Wo seid ihr?“ Ihr schlechtes Gewissen war nicht zu überhören.
„Was ist denn los mit dir?“, fragte die Kommissarin.
„Das erzähle ich euch bei einem Feierabendbier, Mandy, der Liebesapfel hat gewirkt.“
„Wie bitte?“
„Ach nichts, ich komme jetzt.“
„Was hat sie denn gesagt?“, wollte Gerd Förster wissen.
„Sie macht sich augenblicklich auf den Weg. Und dass der Liebesapfel gewirkt hat.“
„Was?“
Der Kommissar musste das Tempo weiter drosseln. Dieser Waldweg schien ihm mehr für einen Jeep oder einen Traktor geeignet.
Auf einmal riss Mandy entschlossen die Beifahrertür auf. „Ich laufe, diese Fahrerei im Schneckentempo dauert mir zu lange, das macht mich ganz nervös, jede Sekunde zählt.“ Sie sprang aus dem fahrenden Auto.
„Du bleibst hier, Mandy!“ Ihr Kollege war jetzt wirklich verärgert, was bei ihm äußerst selten vorkam. „Du kennst die Dienstvorschriften, außerdem ist es viel zu gefährlich. Unser Spezialteam wird die Hütte stürmen, dafür sind sie geschult.“
Mandy hörte gar nicht hin. Sie knallte die Beifahrertür zu und sprintete los. Schon nach wenigen Metern hatten der prasselnde Regen und die neblige Düsternis des Waldes sie verschluckt.
„Verdammt noch mal!“ Der Kommissar kochte vor Wut und versuchte, etwas schneller vorwärtszukommen.
Mandy folgte unterdessen dem Weg und sprang über Steine und sich ausbreitende Schlammpfützen. Innerhalb von wenigen Sekunden war sie komplett durchnässt. Regenwasser rann über ihr Gesicht und in ihre Augen. Immer wieder wischte sie sich mit den Händen die Sicht frei. Ihr langer Rock hatte sich um ihre Beine gewickelt und klebte daran fest. Er hinderte sie bei ihrem schnellen Lauf. Rasch zog sie ihn herunter und warf ihn auf die Erde. Nur noch mit einem Bikinihöschen und einem Pullover bekleidet, rannte sie weiter. Zum Glück hatte sie heute Morgen flache Ballerinas gewählt. Ihre Laufschuhe wären ihr jetzt zwar lieber gewesen, aber so musste es auch gehen.
Plötzlich lichtete sich der Wald, und auf einer Schonung mit noch jungen, zart gewachsenen Fichten erhob sich eine Blockhütte. Erbarmungslose Windstöße fegten um sie herum und rüttelten an den Bäumen und Büschen, die sie umgaben. Regenschauer peitschten auf das Dach, und vom durchnässten Waldboden erhoben sich Nebelschwaden, so dass die ganze Szenerie unwirklich und verschwommen wirkte.
Die Waldhütte machte einen verlassenen Eindruck. Sie war identisch mit der Behausung auf dem Foto. Mandy war sich absolut sicher. Vorsichtig schlich sie im Schutz der tropfenden Bäume näher und entdeckte auf der linken Seite des Holzhauses einen schwarzen, schweren Geländewagen. Sie pirschte näher und spähte in das Fahrzeug. Niemand befand sich darin. Der Besitzer des Jeeps hielt sich wahrscheinlich in der Holzhütte auf. Das Kennzeichen des Wagens lautete FO-EH-69 – die Nummer kam Mandy bekannt vor. Dann fiel es ihr ein. Sie wurde blass.
Geduckt schlich sie langsam um das Haus, bis sie sich auf dessen Rückseite befand. Die grünen Fensterläden waren verriegelt. Sie musste auf der Stelle wissen, was im Inneren vor sich ging und ob sich eine weitere Person in der Hütte befand.
Vorsichtig zog sie an dem Eisenriegel, der sich widerstandslos und ohne jedes Geräusch zurückschieben ließ. Er wurde wohl regelmäßig geölt.
Sie zog ihre Dienstpistole aus dem Halfter und entsicherte sie. Ihre klammen Finger umfassten die untere, raue Kante des Fensterladens. Sie öffnete ihn ohne Hast Zentimeter um Zentimeter, bis sie einen Blick in den Raum werfen konnte. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ ihren Atem stocken.
In dem dämmrigen Zimmer, das nur durch den flackernden Feuerschein eines offenen Kamins erhellt wurde, stand eine Frau mit leicht gesenktem Kopf und starrte in die hoch züngelnden Flammen. Die hellen, glatten Haare fielen offen auf ihre Schultern. Mandy sah sie im Halbprofil und konnte in dem fahlen Licht nicht erkennen, wer sie war. Sie trug ein ärmelloses, weißes Nachthemd, das fast bis zu ihren nackten Knöcheln reichte. Dicht hinter ihr erhob sich die Gestalt eines dicken Mannes, der sie um zwei Köpfe überragte. Er trug einen langen, dunklen Mantel. Sein Gesicht war durch die im Raum umhertanzenden
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