Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
dem Holzstapel verborgen. Von diesem Rätsel getrieben, zerrte er die Latten fort.
Nach und nach kam der unbekleidete Leichnam einer Frau zum Vorschein. Er konnte Esthers Entsetzen auf der Zunge schmecken, salzig und bitter zugleich. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sie einfach nach draußen zu
zwingen, aber er bezweifelte, dass sie ihm so etwas durchgehen lassen würde. Sie war bis hierher gegangen, sie wollte es wissen.
Die vollständig ausgeblutete Frau mochte mittleren Alters sein, das Adam nicht richtig schätzen konnte. Er tippte auf eine indische Herkunft, weshalb die Zeichen des Alters für ihn schwieriger zu deuten waren. Ihre Haut war selbst nach einigen Tagen des Todes noch von einem lebendigen Braun. Ihre Schlagader war am Hals mit einem einzigen sauberen Schnitt geöffnet worden. Keine Anzeichen von den Spielereien, die die anderen Opfer erleiden mussten. Nur an den Hand- und Fußgelenken waren Druckstellen zu sehen, wo bei der Opferung möglicherweise Fesseln gewesen waren.Aber etwas ganz anderes fesselte ihn viel mehr.
»Der Muskatgeruch passt nicht«, murmelte er, während er Dreck von den starren Gesichtszügen der Frau wischte. »Eigentlich dürfte er nach all den Tagen auch nicht mehr so präsent an dem Leichnam haften. Es ist fast, als wäre einer von uns in der Zwischenzeit hier gewesen.«
»Muskatgeruch? Was hat denn dieses Gewürz mit alldem zu tun?« Zu seiner Überraschung hatte sich Esther neben ihn gekniet und reichte ihm ein Taschentuch, während sie den Leichnam mit einem gequälten Ausdruck betrachtete. Zögernd streckte sie eine Hand aus und zupfte Späne aus dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar.
»Der Dämon riecht nach Muskat, nur trägt jeder von uns eine einzigartige Note. Und diese kenne ich nicht.«
»Das wundert mich nicht, denn der Geruch dürfte von ihr stammen. Nia ist eine von euch … oder war es vielmehr. Sie ist die Gefährtin von Anders gewesen, ehe es Rischka hierherverschlug und sie diesen Platz für sich beanspruchte. Ich dachte, es sei so gut wie unmöglich, euch zu töten.«
»Diese Frau da soll eine von uns gewesen sein?« Obwohl
Esther es ganz deutlich formuliert hatte, konnte Adam es nicht glauben. Es war unmöglich.
Esther legte die Stirn in Falten. »Ich habe mich schon gewundert, wo Nia abgeblieben ist. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass Nia und Rischka sich alles andere als prächtig verstanden haben. Sie haben beide nicht sonderlich gut auf die Konkurrenzsituation reagiert, und Anders ist niemand, der sich in so etwas einmischt. Als Nia dann vor einigen Tagen verschwunden ist, dachte ich, sie hätte den Kampf um Anders aufgegeben. Obwohl mich das natürlich wunderte, schließlich macht Anders’ Gabe süchtig.«
Endlich begriff Adam, was an der Spur so seltsam war: Vor ihm lag wahrhaftig ein Leib, der früher einmal ein Tempel des Dämons gewesen war. Nun war er leer und dem Verfall überlassen. Aber wo war der Dämon jetzt?
Adam bekam keine Gelegenheit, darüber nachzudenken. Denn sein vor Zorn tobender Dämon brach in Rage aus.
Das darf nicht sein! Es ist unmöglich.Wer hat diesen schändlichen Raub begangen?
Sein Wutschrei drohte Adam zu zerreißen. Es fühlte sich an, als würden ihm unzählige Eissplitter unter die Haut gejagt werden. Nie zuvor war der Dämon derartig von Sinnen gewesen. In seinem blinden Zorn wütete er durch den Tempel, unbeeindruckt von dem, was er Adam damit antat. Ohne sich dessen bewusst zu sein, sank Adam in sich zusammen. Die Welt bestand nur noch aus vernichtendem Schmerz.
Als der Schrei des Dämons endlich abebbte, kam Adam langsam wieder zu Bewusstsein. Noch immer glaubte er ein Nachhallen zu hören und befürchtete einen erneuten Sturz in die Dunkelheit. Zu seiner Verwunderung fand er sich, auf der Seite liegend, am Flussbett wieder statt neben der leeren Hülle, die von einer Frau namens Nia zurückgeblieben war.
Esther kauerte neben ihm, die Wangen übersät mit roten Flecken. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, und ihr Herzschlag ging so wild, dass Adam vor lauter Sorge fast alles andere vergaß.
Sie sah so schockiert aus.
Er wollte nach ihr greifen, ihr beruhigende Worte zuflüstern, doch es gelang ihm nicht. Sein Körper gehorchte ihm noch nicht wieder, es war, als wären die Verbindungen zwischen ihm und seinen Gliedern gekappt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie anzublinzeln.
Esther musste ihn aus dem Verschlag gezogen haben, während der Dämon in ihm getobt hatte.
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