Nachthaus
sie mit achtzig ebenso wenig Nachsicht auf wie mit zwanzig. Zu ihrem Verdruss war die Welt mehr denn je ein Tempel der Absurditäten. So viele Leute hatten aufgehört, an irgendeine Wahrheit zu glauben, die ihnen Hoffnung gab, und nahmen stattdessen mit unkritischer Begeisterung einen Glauben an das belebte Unbelebte an, denn nichts anderes war die Computer-»Intelligenz«, an das schillernde, aber hohle Utopia des Internet und sämtlicher digitalen Dinge, an die grotesken ökonomischen Theorien neidischer Soziopathen, an die absolute moralische und rechtliche Gleichheit von Menschen und Ameisen und Menschenaffen und Artischocken. Insbesondere verabscheute Martha die zahlreichen Spielarten von Endzeitpredigern, die, wie der grässliche Mr. Udell in 3- H , inbrünstig an die eine oder andere existenzielle Bedrohung glaubten, von einer bevorstehenden Eiszeit über eine akute planetarische Kernschmelze bis hin zur Entrückung, gefolgt von der satanischen Herrschaft und Armageddon. So ein Unsinn.
Bis vor ein paar Tagen war ihre Köchin und Haushälterin Sally Hollander noch bei klarem Verstand gewesen. Dann begann sie plötzlich von lebhaften und beunruhigenden Träumen zu reden. Nach der dritten Runde von Albträumen war sie derart verstört, dass sie sich einbildete, es müssten prophetische Ausblicke auf den rasch nahenden Weltuntergang sein. Und jetzt behauptete sie, sie hätte den Teufel im Geschirrkabinett gesehen.
Die Stadt war real, das Unwetter war real und das Fenster vor Martha war real, aber der Teufel im Geschirrkabinett war Blödsinn und Humbug. Entweder Sally, die bisher so zuverlässig und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen war, hatte eine Midlife-Crisis und entwickelte eine Persönlichkeitsstörung oder die arme Frau litt an einer körperlichen Krankheit, deren Symptome unter anderen Halluzinationen und Wahnvorstellungen waren. Da Sally für sie wie eine geliebte Nichte war, wollte Martha die zweite Möglichkeit, die auf einen Gehirntumor oder ein anderes grässliches Leiden hinweisen mochte, gar nicht in Betracht ziehen.
Ein Blitz zerhackte den Himmel wie eine lodernde Axt und ein Donnerschlag krachte wie tausend gefällte Bäume, die gleichzeitig umstürzten. Einen Moment lang schien es in der ganzen Stadt dunkel zu werden. Aber das konnte nichts weiter als die vorübergehende blendende Wirkung des strahlend hellen Blitzes gewesen sein, denn als sie zweimal blinzelte, war die Stadt wieder dort draußen, und ihre blinkenden Gebäude und von Laternen erhellten Boulevards versanken in der Düsternis.
Vorhin, während Sallys Ausbruch, hatten Smoke und Ashes, zwei Kartäuser, katzenhafte Ruhe bewahrt, träge und in sich selbst vertieft. Bei dem ersten Schrei hatten sie ihre Ohren kurz aufgestellt und die Köpfe zu der Geräuschquelle umgedreht. Aber ihre Muskeln hatten sich nicht angespannt und ihr dichtes, hyperweiches blaugraues Fell hatte sich nicht im geringsten gesträubt. Als die Entsetzensschreie der Haushälterin zu einem Schluchzen abgeklungen waren, hatten Smoke und Ashes bereits jedes Interesse an ihr verloren und sich erneut ihrer Körperpflege gewidmet. Das Verhalten der Katzen genügte Martha als Beweis dafür, dass ihnen nichts Dämonisches einen Besuch abgestattet hatte.
Edna, mit ihren 82 Jahren Marthas ältere Schwester, hatte eine Neigung zu jeder Form von Unsinn. Ihr ganzes Leben lang hatte Edna an die unwahrscheinlichsten Dinge geglaubt, vom Handlesen bis hin zu Poltergeistern, vom versunkenen Kontinent Atlantis bis hin zu Städten auf der dunklen Seite des Mondes. Im Moment saß sie mit Sally am Küchentisch, drängte der erschütterten Frau Kaffee mit einem Schuss Brandy auf, um ihre Nerven zu beruhigen, und ermutigte sie, sich an weitere Details ihrer Begegnung mit dem Fürsten der Finsternis im Geschirrkabinett zu erinnern – oder sie zu erfinden.
Manchmal wunderte sich Martha darüber, dass sie und Edna, die sich in so vieler Hinsicht voneinander unterschieden, gemeinsam ein beachtliches Geschäft aufgebaut hatten und dass es dabei im Lauf der Jahre so wenig Reibereien gegeben hatte. Martha besaß die nötige Geschäftstüchtigkeit und Edna ließ sich die Rezepte für immer köstlichere Kreationen einfallen. Cupp Sisters Cakes wurde zum größten Versandhaus von Desserts im ganzen Land und stellte ein äußerst erfolgreiches Sortiment von tiefgekühlten Kuchen her, die in Supermärkten verkauft wurden. Im Allgemeinen machten sie jeden Trend auf dem Kuchensektor
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