Nachthaus
hatte eine Spitzenpasse aus plissierter Seide, ein passendes Mieder mit abstehendem Hüftschößchen, plissierte Ärmel bis zu den Ellbogen und einen bodenlangen gerafften Rock.
Martha war so sehr an Ednas Marotten gewöhnt, dass sie die meiste Zeit kaum wahrnahm, wie ungewöhnlich sich ihre Schwester herausputzte, doch ab und zu fiel ihr, so wie in diesem Moment, auf, dass man diese Kleider noch am ehesten als Kostümierungen bezeichnen konnte. Als sie jetzt mit Sally Hollander, deren selbst gewählte Livree aus einer saloppen schwarzen Hose und einer schlichten weißen Bluse bestand, am Frühstücks tisch saß, wirkte Edna exzentrisch, reizend und lieb, angenehm wirklichkeitsfremd, aber eben doch unbestreitbar exzentrisch.
Bailey lehnte den angebotenen Kaffee, ob mit oder ohne Brandy, ab, setzte sich Sally gegenüber an den Tisch und sagte: »Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben?«
Bisher hatte das breite sommersprossige Gesicht der Haushälterin immer den Eindruck erweckt, als schimmere es im zarten Widerschein eines Kaminfeuers, und ihre grünen Augen waren oft fröhlich oder zumindest belustigt. Jetzt war ihre Haut aschfahl und das Feuer in ihren Augen nahezu erloschen.
Das Beben ihrer Stimme schien echt zu sein. »Ich war gerade dabei, die Teller vom Mittagessen wegzuräumen. Die mit dem durchbrochenen Rand und dem Rosenmuster. Aus dem Augenwinkel habe ich etwas gesehen … etwas Flinkes und Dunkles. Anfangs war es ein Schatten, wie ein Schatten, aber doch kein Schatten. Es kam aus der Küche ins Geschirrkabinett und ist an mir vorbeigesaust. Zur Esszimmertür. Groß, gut zwei Meter groß, und sehr schnell.«
Edna rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn, stützte die Arme auf den Tisch und senkte die Stimme, als sei sie besorgt, die Mächte der Finsternis könnten erfahren, dass sie von ihr wahrgenommen worden waren. »Manche behaupten ja, Andrew Pendleton höchstpersönlich spuke in diesem Haus herum, seit er damals Selbstmord begangen hat.«
Martha lehnte sich an eine Anrichte und seufzte, doch niemand nahm Notiz davon.
»Vielleicht ist das wahr, vielleicht auch nicht«, fuhr Edna fort. »Aber selbst wenn sich in der Shadow Street 77 so viele rastlose Schatten herumtrieben wie auf irgendeinem Friedhof, dann war das trotzdem keiner von ihnen. Es war nichts so Unschuldiges wie verweilende Geister. Sagen Sie es ihm, Sally.«
»Gott steh mir bei, aber ich fürchte mich fast, darüber zu sprechen«, sagte die Haushälterin. »Wenn man über solche Dinge redet, könnten sie das als eine Aufforderung auffassen. Das ist es doch, was die Leute sagen, nicht wahr, Miss Edna? Ich will dieses Ding nicht auffordern, noch einmal herzukommen, ganz gleich, was es war.«
»Wir wissen , was es war«, sagte Edna.
Martha erwartete, dass Bailey sie vielsagend ansehen würde, doch seine Konzentration galt weiterhin der Haushälterin. »Sie haben gesagt, anfangs sei es wie ein Schatten gewesen.«
Sally nickte. »Es war schwarz wie Tinte. Keine Einzelheiten. Aber dann habe ich mich umgedreht, um hinzusehen, nachdem er an mir vorbeigekommen war … und ich habe ihn so deutlich gesehen, wie ich Sie jetzt sehe. Er war etwa zweieinhalb Meter weit entfernt und hat sich zu mir umgedreht, als hätte er mich erst bemerkt, als er an mir vorbeigerauscht ist, und sei erstaunt, mich dort zu sehen. Wie ein Mann und doch nicht wie ein Mann. Die Kopfform war anders, da stimmte etwas nicht. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was es war. Aber er war völlig unbehaart, keine Augenbrauen. Die Haut so grau wie Blei. Sogar die Augen waren grau, die Augäpfel waren nicht weiß und die Iris war schwarz, so schwarz und so tief wie die Mündungen von Gewehrläufen.« Sie erschauerte und suchte Zuflucht bei ihrem Kaffee mit Schuss. Dann: »Er … es … es war hager, aber es wirkte kräftig. Es hat seinen Mund aufgemacht, diese grässlichen grauen Lippen, die Zähne waren ebenfalls grau. Und scharf. Es hat gezischt und es wollte mich beißen, da bin ich mir ganz sicher. Ich habe geschrien, und es hat sich so schnell auf mich gestürzt, schneller als eine Katze oder eine Schlange, die angreift, schneller als alles, was man sich vorstellen kann.«
Obwohl Martha weiterhin entschlossen war, nicht so leichtgläubig wie Edna zu sein, konnten weder ihre schützende Skepsis noch ihr vernünftiger Hosenanzug verhindern, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Sie sagte sich, das, was sie beunruhige, sei die Veränderung, die sich an Sally vollzogen
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