Nachthaus
fühlte sich Bailey an ein französisches Schloss erinnert, das er einmal besucht hatte.
Da die Treppe rund war, gab esnur auf jeder Etage einen Absatz und keine Treppenabsätze auf halber Höhe. Als er den Absatz erreichte und eine Hand nach der Tür ausstreckte, hörte er rasche Schritte die Treppe hinunterkommen und eine Kinderstimme, die sang:
»Sing a song of sixpence, a pocketful of rye, four and twenty blackbirds baked in a pie …«
Die Stimme war so klar und melodisch, dass Bailey stehen blieb, um zu sehen, wer da sang. Es gab nur wenige Kinder im Pendleton.
»When the pie was opened, the birds began to sing …«
Auf der Treppe über ihm tauchte ein Mädchen von vielleicht sieben oder acht Jahren auf, so hübsch wie ihre Stimme und mit lebhaften blauen Augen. Sie trug anscheinend eine Verkleidung: ein himmelblaues Baumwollkleid mit einem Rüschenrock und gerafften Ärmeln, darüber ein blassgelbes Kleidungsstück aus Leinen, das Ähnlichkeit mit einer Schürze hatte und mit schlichter Spitze eingefasst war, dazu weiße Gamaschen. Ihre weißen Schuhe, die bis über die Knöchel reichten, waren geknöpft, keine Schnürschuhe.
Als sie Bailey sah, blieb sie stehen und deutete einen Knicks an. »Guten Abend, Sir.«
»Dieses Kleid musst du von Edna Cupp haben«, sagte Bailey.
Das Mädchen sah ihn verwundert an. »Es ist von Partridge’s, wo Mommy all unsere Sachen kauft. Ich bin Sophia. Sind Sie ein Freund von Daddy?«
»Das könnte sein. Wer ist denn dein Vater?«
»Der Hausherr natürlich. Aber ich muss mich beeilen. Der Eismann wird jeden Moment die Küche beliefern. Wir werden von einem der Blöcke Eis abraspeln und Kirschsirup darübergießen, das schmeckt einfach köstlich.«
Als sie an Bailey vorbeischlüpfte und von dem Absatz auf die Stufen sprang, sagte er: »Wie heißt du mit Nachnamen, Sophia?«
»Pendleton natürlich«, sagte sie und stimmte ein weiteres Lied an, während sie auf der gewundenen Treppe aus seinem Blickfeld verschwand.
»Old King Cole was a merry old soul, and a merry old soul was he …«
Die Schritte und die Stimme des Mädchens verklangen schneller, als es sich durch die Krümmung des Treppenhauses erklären ließ.
Bailey wartete auf das Geräusch, mit dem eine Tür geöffnet und geschlossen wurde, doch die Stille des fensterlosen Treppenhauses wurde zu einem abgrundtiefen Schweigen.
Ohne genau zu wissen, was er damit beabsichtigte, stieg er wieder ins Erdgeschoss hinunter und von dort aus weiter in den Keller. Er rechnete damit, dass das Mädchen dort unten wartete. Die schwere Feuertür ließ sich nicht lautlos öffnen und schließen. Und doch war das Mädchen fort.
* * *
Twyla Trahern
Nachdem sie am Telefon gerade mit einem Fräulein im Haupt amt von City Bell des Jahres 1935 oder mit jemandem gespro chen hatte, der sie zum Besten halten wollte und Teil einer bizarren Verschwörung zu unergründlichen Zwecken war, scheuchte Twyla Winny aus der Küche und in die Waschküche. Sie holte einen Regenmantel und einen Schirm aus dem Garderobenschrank in der Ecke und Winny zog eine Jacke mit Kapuze an.
Da die lichtlose Ebene, auf die sie einen Blick erhascht hatte, noch frisch in ihrer Erinnerung war, nahm sie zwei Taschenlampen aus einer Schublade voller Krimskrams und steckte sie in ihre Manteltaschen.
Sie verließen die Wohnung durch die Hintertür; sie schloss die Tür ab und dann eilten sie durch den kurzen Flur zum südlichen Aufzug. Twyla drückte den Knopf, damit er kam.
Winny sagte: »Wie konnte sie sich so verändern? Die Wand?«
»Ich weiß es nicht, Schätzchen.«
»Wo war dieser Ort, dieser schmuddelige Ort, der da war und dann gleich wieder weg war?«
»Ich weiß es nicht. Ich schreibe Songs. Ich schreibe keine Science-Fiction.« Sie drückte noch einmal auf den Knopf, um den Aufzug zu holen. »Jetzt komm schon, beeil dich.«
»Es war dieselbe Wand, aber doch anders, wie das Pendleton in einer anderen Welt. Du weißt schon, wie Parallelwelten in Geschichten.«
»Ich lese solche Geschichten nicht. Vielleicht solltest du sie besser auch nicht lesen.«
»Ich hatte nichts damit zu tun, was mit der Wand passiert ist«, beteuerte er ihr.
»Nein, natürlich nicht. So habe ich das nicht gemeint.«
Sie wusste selbst nicht, wie sie es gemeint hatte. Ihre Verwirrung bestürzte sie. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie gewusst, wie sie mit allem, was auf sie zukam, fertig wurde, denn sie hatte sich keine Zweifel und keine Ausflüchte gestattet. Seit sie
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