Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
sammeln. Wie in Trance nahm sie wahr, wie dieser hinter ihrem Rücken seine Türen schloss und davonfuhr. Die plötzlich eintretende Einsamkeit und Stille traf sie wie ein Schlag und schnürte ihr die Luft ab. Da war es wieder, dieses beklemmende Gefühl. Vor Anja lag zwar das beleuchtete Stück der Sackgasse und trotzdem reichte dieses Halbdunkel, um Panik heraufzubeschwören. Die zumeist älteren Einfamilienhäuser, umgeben von großzügigen Gärten, wirkten wie in sich geschlossene Trutzburgen und konnten ihr kein Gefühl der Sicherheit vermitteln.
»Lauf!«, befahl sie sich erst geistig, dann hörbar und tatsächlich setzten sich ihre Beine langsam in Bewegung. Frau Haagens Haus war von hier aus das letzte auf der linken Seite, da es aber ein kleines Stück zurückgesetzt stand, bot es ihr noch kein erkennbares Ziel. Anja schaffte es bis zu der ersten Laterne, als sie glaubte, Schritte hinter sich zu hören. Sie versuchte sich zusammenzureißen, machte noch einige Schritte und drehte sich möglichst plötzlich um. Nichts! Die Straße hinter ihr war genauso leer wie die vor ihr. Alles, was sich bewegte, war das Licht von den Scheinwerfern eines Autos, das oben auf der Landstraße näher kam, die Einfahrt der Sackgasse passierte und wieder verschwand. Erneut senkte sich Stille über die ruhige Straße und machte damit ihren eigenen Atem hörbar. Anja versuchte, Frau Haagens Gartenzaun als festen Punkt zu fixieren, und ging mit schnellem Schritt weiter. Wieder ertönte ein herannahendes Motorengeräusch, wurde kurz leiser, dann wieder lauter. Der helle Schein zweier Xenonlichter flog erst über die Hauswände und Gartenpflanzen, behielt dann seine Richtung bei und leuchtete sie von hinten an. Alleine der Umstand, ein Auto hinter sich zu wissen, genügte, um jeden vernünftigen Gedanken zu verdrängen. Ohne nachzudenken, machte Anja einen Satz zur Seite und presste sich mit dem Rücken an den nächsten Gartenzaun. Obwohl sie so hart gegen das Holz schlug, dass ihr kurz die Luft wegblieb, kam ihr der seltsame Gedanke, dass sie dieser Irre auf keinen Fall so einfach bekommen sollte. Wenn er sie überfahren wollte, musste er wohl oder übel mit seinem Auto gegen den Zaun fahren.
Das gleißende Licht kam schnell näher und machte es ihr unmöglich Details zu erkennen. Erst als der Wagen genau auf ihrer Höhe hielt und sie damit aus dem Lichtkegel war, erkannte sie die Silhouette des Fahrers und hielt die Luft an. Was hatte dieser Irre vor?
Das Fenster des Mercedes fuhr mit leisem Surren nach unten und ein grauhaariger Mann, den Anja vom Sehen her kannte, fragte: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Anja hatte noch immer Mühe, ihre Panik zurückzudrängen. Mit zitternden Händen strich sie sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und stotterte: »Ja ... nein ... doch ... ich habe ... nein, ich bin einfach gestolpert.«
Der ältere Herr sah sie einmal skeptisch von oben bis unten an, kniff seine Augen ein wenig zusammen und stellte schließlich fest: »Sie sind doch die Anja, oder? Anja Lange, meine ich.«
Sie sagte: »Ja«, aber es kam nur zögernd über ihre Lippen.
»Soll ich Sie schnell hinter fahren? Ist ja doch schon ziemlich dunkel um diese Zeit«, bot der ältere Herr an.
Eigentlich hätte Anja, die den Nachbarn ihrer Mutter jetzt auch wiedererkannte, dieses Angebot gerne angenommen, aber sie musste ja erst Gerald holen. Andererseits zeigte ihre Armbanduhr gerade einmal kurz nach 16 Uhr und vielleicht konnte Florian ihren Bruder später gleich mitbringen.
»Und?«, fragte der Mann, nachdem er ihr eine kurze Bedenkzeit gegeben hatte. Anja nickte: »Das wäre nett von Ihnen.«
Vor dem Haus angekommen, wartete der Nachbar, bis Anja die Tür aufgeschlossen hatte, wendete seinen Wagen und fuhr das kurze Stück zurück. Kaum dass sie die Tür wieder geschlossen hatte, schien die dumpfe Stille des leeren Hauses sie förmlich zu erdrücken. Ohne sich erst die Schuhe auszuziehen, ging Anja in die Küche und stellte das kleine Radio an, um sich etwas Ablenkung zu verschaffen.
Nachdem sie Jacke und Schuhe abgelegte hatte, setzte sie sich an den Küchentisch, zündete sich eine Zigarette an und tippte eine Nachricht an Florian in ihr Handy. Nur wenige Sekunden später bestätigte er ihr, dass er am Abend kommen würde, und auch, dass er Gerald mitbringen konnte. Erleichtert, nicht mehr raus zu müssen, rief sie anschließend noch Frau Haagen an, die allerdings regelrecht darum bettelte, Gerald über Nacht bei
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