Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
brachte sie zwar wieder an den Rand eines Anfalls, doch irgendwie schaffte sie es bis in ihre Wohnung, wo sie erst einmal zwei Baldrian schluckte. Als sie dann feststellte, dass sich hier nichts verändert hatte, beruhigte sie sich langsam und konnte halbwegs gefasst ihre Wäsche, die noch vom Vortag in der Waschmaschine lag, herausnehmen. Danach packte sie noch einige Dinge für eine weitere Nacht im Haus ihrer Mutter, bestellte telefonisch Tortellini zum Mitnehmen bei ihrem Lieblingsitaliener und verließ die Wohnung wieder.
Da dies der erste trockene Tag seit langem war, fuhr sie nur das erste Stück mit dem Bus und ging den Rest zu Fuß. Die frische Luft und ein paar Sonnenstrahlen beruhigten ihre Nerven und Anja hatte seit langem wieder das Gefühl durchatmen zu können. Selbst dass sie sich ständig umblicken musste, wurde auf halber Strecke besser und als sie den italienischen Imbiss erreichte, fühlte sie sich beinahe wohl. Nach einem kurzen Tratsch mit dem Koch verschloss dieser die Aluschale, packte sie in eine Tüte und Anja setzte ihren Spaziergang fort.
Beim Betreten des Krankenhauses hatte sie das Gefühl, schon ewig nicht mehr hier gewesen zu sein. Alles erschien ihr irgendwie fremd und unwirklich. Schwestern, viele von ihnen kannte sie, liefen hektisch umher und hatten kaum Zeit für ein paar Worte. Leere Betten wurden durch die Gänge geschoben, Patienten humpelten, zum Teil mitsamt ihren Infusionsständern, zum Rauchen hinaus auf den Vorplatz, und trotz dieses Treibens herrschte eine bedrückende Stille, die ihr früher nie aufgefallen war. Fast schien es so, als hätte jeder bei der Einlieferung sein Lachen abgeben müssen. Für Anja fühlte sich das alles plötzlich unendlich fremd und bedrückend an und mit einem Mal wurde ihr klar, dass dies hier vielleicht ihr zukünftiger Arbeitsplatz werden würde.
Wie sie es geplant hatte, war sie zunächst in die Abteilung gegangen, wo ihre Freundin zurzeit eingeteilt war. Anja wollte Ute nur »Hallo« sagen und vielleicht etwas für die nächsten Tage ausmachen, doch als sie diese nirgends finden konnte, fragte sie eine der Stationsschwestern.
»Pause? Sind Sie sicher?«, hakte sie mit einem kritischen Blick auf die Uhr nach, doch die Schwester wiederholte ihre Aussage.
Anja zuckte mit den Schultern, bedankte sich und folgte der Beschilderung, die zu dem kleinen Kaffee der Klinik führte. Und tatsächlich, ganz im hintersten Eck saß Ute ... und ihr gegenüber Florian. Anja widerstand dem ersten Impuls, sich einfach umzudrehen und zu verschwinden. Sie hasste es, wenn ungeklärte Dinge im Raum standen, auch wenn es manchmal schmerzhaft war, diese zu klären. Auf dem Weg durch die willkürlich aufgestellten Tische des Kaffees wurden ihre Knie mit jedem Schritt weicher. Sollte es das sein, nach dem es aussah, war dies das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
Obwohl nur noch zwei Tische zwischen ihr und den beiden standen, hatten sie sie noch nicht entdeckt und erste Wortfetzen drangen an ihr Ohr: »... der hat wirklich multiple Sklerose ... habt ihr das gegeben ...«, hörte sie Ute fragen, dann hob Florian den Kopf und sah Anja.
Unbewusst suchte sie nach etwas in seinem Gesicht, das ihn verraten würde, aber da war nichts. Seine Gesichtszüge zeigten erst Überraschung, dann stand er mit einem Lächeln auf und nahm sie mit den Worten in den Arm »Hi, schön, dass du da bist. Warum hast du nicht gesagt, dass du deine Mutter besuchten willst?«. Er ließ sie wieder los und sah sie prüfend an: »Du willst doch deine Mutter besuchen oder ist etwas passiert?«
Anja brauchte eine Sekunde für ihre Erleichterung, offenbar hatten ihr ihre Nerven einen Streich gespielt ... die beiden hatten mit Sicherheit nichts miteinander. Um abzulenken, begrüßte sie erst Ute mit einem Küsschen auf die Wange, dann antwortete sie, als wäre nichts gewesen: »Ja, ich war gerade auf dem Weg zu ihr, da habe ich euch hier gesehen.«
»Hast du einen Moment Zeit, dann hole ich dir noch schnell einen Kaffee«, bot Florian an und zog ihr auch schon einen Stuhl vom Nachbartisch heran. Anja nickte: »So viel Zeit habe ich. Danke dir.«
Wie sich herausstellte, hatten sich Ute und Florian zufällig getroffen und über einige Diagnosemethoden gesprochen. Wieder machte sich das ungute Gefühl in Anja breit, jemanden zu Unrecht verdächtigt zu haben. Sie brauchte dringend eine Auszeit!
Nach 20 Minuten war die Pause der beiden zu Ende, doch Anja begleitete Ute noch in ihre
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