Nachtklinge: Roman (German Edition)
alle von ihm abgewandt hatten und bezweifelten, ob er überhaupt zu zähmen war. Sie hatte ihn lesen gelehrt und ihre Juwelen hingegeben, um ihn auf dem Sklavenmarkt freizukaufen.
Tycho schuldete ihr diese letzte Ehre.
Neben Tycho stand sein neuer Page. Er trug ein schwarzes Wams, schwarze Beinlinge und schwarze Stiefel, und er war geradezu lächerlich stolz darauf. Eigentlich hatte Pietro kein Recht, an der Trauerfeier teilzunehmen, und manche Gäste verzogen bei seinem Anblick missbilligend das Gesicht. Tycho hatte vorsorglich verbreiten lassen, er fände sich ohne den Jungen bei Tageslicht nicht zurecht.
»Und was passiert jetzt?«, fragte Pietro.
Tycho legte den Finger an die Lippen.
Der Doppelsarg wurde langsam in die Grube gesenkt.
Er war mit Blei versiegelt, damit kein Verwesungsgeruch austrat und um zu verhindern, dass der Sarg beim nächsten Hochwasser aufstieg und den kostbaren Boden beschädigte.
Nach den Gebeten würde die Grube mit Erde gefüllt werden, die man verdichtete, um den Unterboden darüberzulegen. Anschließend würde ein Mosaikleger die winzigen Glasfliesen zusammensetzen, die für die Beerdigung entfernt worden waren. Grablegungen in San Marco waren den ehrenvollsten Toten vorbehalten. Dass Graf Atilo und Desdaio hier bestattet wurden, bewies, welche Bedeutung man dem Verbrechen beimaß.
»Es dauert nicht mehr lange«, gab Tycho flüsternd zurück.
Pietro sah ihn fragend an.
»Die Trauerfeier ist gleich zu Ende, und du kannst gehen.«
Der Junge nickte dankbar. Tycho hatte seinen neuen Lehrling mit Gold freikaufen und dafür sorgen müssen, dass seine früheren Verbrechen aus den Berichten verschwanden. Alexas Protektion hatte dabei geholfen.
»Geh direkt nach Hause.«
Pietro nickte stumm. Er lernte schnell.
Nachdem er seinen Namen genannt hatte, gestattete man Tycho den Zutritt zum Sitzungssaal im Obergeschoss, wo er vor zwei Tagen seinen Eid geschworen hatte. Auch heute waren die Stühle hufeisenförmig angeordnet, mit zwei Sesseln für Alonzo und Alexa und einem besonders prächtigen für den Dogen.
An der mit Holzpaneelen verkleideten Wand stand ein Tisch mit Naschwerk, Wein in Silberkrügen und Dünnbier in einem Eichenfässchen. Es gab ein kleines Kohlebecken, auf dem Alexas Tee zubereitet wurde. Alles war bereit, lediglich die Bediensteten fehlten, denn niemand durfte der heutigen Tagung beiwohnen. Nur eine Person ließ noch auf sich warten.
Endlich schlurfte der Doge mit gesenktem Blick herein, warf sich in den Sessel und streckte die Beine von sich. Seine Füße tappten in einem Rhythmus, den nur er selbst hörte, gegen die Marmorfliesen. Das kurze Gespräch mit Giulietta in der Basilika hatte seinen Vorrat an gesundem Menschenverstand offenbar erschöpft.
Ungeniert schob er die Hand in die Hose, kratzte sich im Schritt und untersuchte anschließend seine Fingernägel.
»Alexa …«
»Ja«, gab sie zurück, »er hört zu.«
Alonzo klappte den Mund zu. Widerspruch war ohnehin nutzlos. Sie waren zusammengekommen, um die neue Klinge des Dogen zu ernennen, und für eine rechtsgültige Wahl war die Anwesenheit des Dogen erforderlich.
»Darf ich die Versammlung eröffnen?«, erkundigte sich Alonzo.
Marco schwieg.
»Wir haben uns versammelt, um die neue Klinge des Dogen zu bestimmen. Eine Diskussion ist willkommen.« Er lächelte strahlend in die Runde. »Ihr wisst, dass ich jederzeit zu einer Diskussion bereit bin. Traditionell ist es die Aufgabe des Dogen, die Klinge zu ernennen. Da mein Neffe dazu nicht in der Lage ist, liegt die Entscheidung bei seinem Regenten und …«
»Bei
seinen
Regenten«, verbesserte Alexa.
Alonzo lächelte höhnisch.
Es war allgemein bekannt, wie wenig ihm ihre Mitregentschaft behagte. Dass sich Alexa meist mit der Anrede Dogaressa zufriedengab, sollte wohl die bittere Pille versüßen.
»Den Regenten«, wiederholte er unwillig. »Nach der Ernennung sind alle hier Anwesenden verpflichtet, den Namen der neuen Klinge bis zu ihrem Tod geheim zu halten.« Alonzos Blick glitt durch den holzgetäfelten Saal und verharrte flüchtig auf dem Dogen. Er musterte nacheinander Iacopo und Alexa und strafte Tycho mit völliger Nichtachtung.
Die Geste wirkte einstudiert.
»In meinen Augen«, sagte Alonzo, »gibt es nur eine Wahl.«
Die Dogaressa straffte die Schultern und lehnte sich dann entspannt an die kostbar geschnitzte Lehne. Sie streichelte beruhigend Marcos Hand.
»Sprich weiter …«
»Venedig braucht eine neue Klinge.«
Der Regent
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